SISSI - Die Vampirjägerin
abrupt zum Schweigen. Ich mache heute auch alles falsch, dachte sie.
Néné stieß sie kurz mit dem Ellbogen an, zwinkerte und nickte. »Das werde ich«, flüsterte sie.
Wieder ging es ein paar Schritte voran. Die geöffneten breiten Türen des Ballsaals lagen auf der linken Seite. Sissi war überrascht, wie dick das Holz war. Selbst mit einem Rammbock hätte man es wahrscheinlich nicht zerstören können. Sie nahm sich vor, ihrem Vater davon zu erzählen. Er sammelte solche Informationen.
Im Saal war es leiser als auf dem Gang. Sissi blieb in der Tür stehen. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Kronleuchter an der Decke erblickte, den glänzenden Marmorboden und die mehr als mannshohen Spiegel an den Wänden, in denen sich das Licht Tausender Kerzen brach. Alles funkelte und glitzerte, als habe sie gerade die Schatzkammer aus einem orientalischen Märchen betreten. In einer Ecke bereiteten Musikanten ihre Instrumente vor, während Diener die großen runden Tische deckten, an denen die Gäste Platz nehmen würden. Der eigentliche Ballsaal lag dahinter. Säulen trennten ihn vom Rest des riesigen Raums.
Sissis Blick glitt an der Schlange entlang. Sie endete in einem Halbkreis aus Zuschauern, die wohl den Begrüßungen durch den Kaiser lauschten. Herzog Max hatte einmal erzählt, bei großen Festen wäre es üblich, darauf zu wetten, wie viele Namen der Gastgeber verwechselte.
Den Kaiser selbst sah Sissi nicht. Die Zuschauer verdeckten ihn.
Sophie trat durch eine kleinere Seitentür und schritt zu einer Stelle irgendwo hinter den Zuschauern. Sissi konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber etwas sagte ihr, dass sie nicht erfreut war. Ging es darum, dass der Kaiser Néné nicht besucht hatte? Es erschien ihr seltsam, dass Sophie sich mit einer solchen Kleinigkeit befasste.
Néné ergriff ihre Hand. »Gleich ist es so weit«, flüsterte sie Sissi ins Ohr. »Wünsch mir Glück.«
Sissi drückte ihre Hand. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Diener, die zu den Zuschauern traten und sie ansprachen. Höflich, aber bestimmt wurden sie dazu aufgefordert, sich zu ihren Tischen zu begeben.
Die Reihen lichteten sich.
Und dann sah sie ihn.
KAPITEL ZWÖLF
Eine Frage sollte man sich selbst immer wieder stellen: Wie weit könnten wir – die Menschheit – sein, wenn es unsere Unterdrücker nicht gäbe? Hätten wir bereits die Armut besiegt, den Krieg, das Leid? Würden wir in einem friedlichen, vereinten Europa leben und nicht in einem, das von Misstrauen und Konflikten zerrissen ist? Wir werden es nie erfahren, manche sagen, zum Glück.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Es ist mir eine große Freude, Sie heute Abend begrüßen zu dürfen, Baron.« Franz-Josef gab einem jungen Mann, den er noch nie gesehen hatte, die Hand. »Ich hoffe, Ihre Frau hat sich von ihrem Reitunfall erholt.«
»Das hat sie, vielen Dank, Majestät.«
Der Mann ging weiter. An seiner Stelle erschien ein neues Gesicht vor Franz-Josef, das ihm ebenso unbekannt war wie das letzte.
»Baronin Leonide von Ansbach-Großau, vor zwei Monaten verwitwet«, flüsterte ihm sein Sekretär Ludwig zu.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Franz-Josef, wie sich Sophie einen Weg durch die Menge bahnte. Ihr Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen.
»Baronin.« Er sprach der alten Frau sein Beileid aus, drückte tröstend ihre Hand und wartete auf den nächsten Gast.
Sophie blieb neben ihm stehen und hob die Mundwinkel. Franz-Josef nahm an, dass diese Bewegung ein Lächeln darstellen sollte, doch es wirkte eher, als würde ein Wolf die Zähne blecken. Die menschliche Familie, die er hatte begrüßen wollen, wich erschrocken einen Schritt zurück.
Er winkte sie heran. »Kommen Sie ruhig näher, Graf …« Ludwig hatte ihm den Namen keine Minute zuvor gesagt, aber er fiel Franz-Josef nicht mehr ein. »Es freut mich, Sie auf meinem Fest begrüßen zu dürfen.« Sein Blick glitt über die beiden uniformierten Jungen, die neben dem Mann standen, zu der korpulenten Dame, die mit einem Fächer wedelte. »Ihre Gattin ist bezaubernd wie immer.«
Er wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte, als die Jungen zu Boden blickten und die Frau ihren Fächer vors Gesicht hob.
»Das ist meine Tochter.« Der Blick des Grafen – war es überhaupt ein Graf oder nicht doch ein Baron? – war kalt. »Meine Frau ist vor fünf Jahren an der Schwindsucht gestorben. Sie waren auf ihrer Beerdigung.«
Franz-Josef öffnete den Mund, aber der Mann wandte sich bereits
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