SISSI - Die Vampirjägerin
heiraten, Kinder großziehen und zusammen alt werden.« Ein seltsamer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sissi las Bedauern darin, aber auch Stolz.
»Das werden wir«, sagte sie. Dann lächelte sie. »Wenn Mutter ihn nicht verschreckt.«
»Ja.« Néné räusperte sich und lachte, als wolle sie sich von etwas befreien. »Willst du deinen Kuchen nicht?«
»Doch, aber du kannst die Hälfte haben.« Sissi zog den Teller wieder unter dem Bett hervor. Sie spürte Nénés Hand auf ihrem Arm.
»Das hätte ich ja beinah vergessen«, sagte ihre Schwester. »Sophie besteht darauf, dass du morgen Abend an dem Ball teilnimmst. Tu so, als wüsstest du von nichts, wenn Mutter dir das erzählt, und gib ihr vernünftige Antworten. Sie fürchtet schon, dass du jemanden pfählen wirst, wenn sie dich mitnimmt.«
Sissi legte die Serviette zur Seite und stellte den Kuchenteller auf das Bett. »Wieso traut mir Mutter eigentlich nichts zu? Ich kann alles, was du kannst.«
Néné wurde ernst. »Nein, das kannst du nicht«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben.
Sissi wusste, dass sie recht hatte.
KAPITEL ZEHN
Die Spanische Inquisition, dieser Flächenbrand des Wahnsinns, der Europa jahrhundertelang in einen Ort des Entsetzens verwandelte, ist zugleich eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Kinder Echnatons. Die Inquisition sollte die Mitglieder des Ordens aus dem Verborgenen treiben, doch als sie außer Kontrolle geriet, mussten Hunderttausende ihr Leben in Folterkellern und auf Scheiterhaufen lassen.
Bis zum heutigen Tag müssen die Kinder Echnatons sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht mehr zum Wohlergehen der Menschheit hätten beigetragen können, wenn sie alle sich gestellt und dem Irrsinn ein Ende bereitet hätten.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Der Hof der Residenz stand voller Kutschen, die meisten mit schwarz verhangenen Fenstern und Türen. Der Ball brachte Adlige aus Preußen, Sachsen, Bayern und Österreich zusammen. Viele waren bereits vor ein oder zwei Tagen eingetroffen, um die Gastfreundschaft des Kaisers auszunutzen. Franz-Josef störte das nicht. Sollten die Vampire doch von seinen Zofen trinken und in seinen Wäldern jagen, solange sie taten, was er – beziehungsweise Sophie – von ihnen wollte.
Die Soldaten, die am Haupteingang der Residenz Wache standen, salutierten, als Franz-Josef an ihnen vorbeikam. Seine Wunden waren unterwegs bereits verheilt, nur den Schmutz und den Schleim der getöteten Vampirin hatte er noch nicht entfernen können. Die Wachen zuckten mit keiner Wimper und er beachtete sie auch nicht weiter. Es waren nur Menschen.
So wie Sissi, dachte er im nächsten Moment. Sie ist auch nur ein Mensch und doch würde ich meine Existenz hergeben, um ihr kurzes, armseliges Leben zu retten.
Dass sein Verhalten nur unter einer Voraussetzung einen Sinn ergab, war ihm klar, trotzdem schreckte er vor dem Wort zurück. Er empfand etwas für Sissi, er mochte sie, sehr sogar. Aber Liebe?
Liebe war ein Gefühl für Menschen, eine sentimentale Schwäche, der sich kein Vampir hingeben würde. Zumindest hatte Franz-Josef noch nie von einem Vampir gehört, der zu einem anderen »Ich liebe dich« gesagt hätte. Die Vorstellung war einfach grotesk.
Und doch wünschte er sich, er hätte Sissi genau diese Worte ins Ohr flüstern können.
»Ich liebe dich, Sissi«, flüsterte er probeweise. Es klang seltsam, aber auf eine angenehme, warme Art.
Franz-Josefs Schritte hallten durch die leeren Gänge der Residenz. Der Wachbereich der menschlichen Soldaten endete am Eingang, um die Innenräume kümmerten sich vampirische Bedienstete und Leibwächter. Es waren zumeist verarmte Adlige, die versuchten, auf diese Weise um Sophies Gunst und um eine zweite Chance zu buhlen.
Franz-Josef begegnete nur einem von ihnen, einem jung aussehenden, schüchternen Mann, der den Blick senkte, an ihm vorbeiging und hastig »Guten Abend, Majestät« murmelte.
Franz-Josef erwiderte den Gruß. Obwohl die Nacht noch jung war, schienen die meisten Vampire in ihren Gemächern zu sein. Wahrscheinlich bereiteten sie sich auf den Ball vor. Man brauchte Ruhe und Konzentration, um Menschen in nächster Nähe über Stunden hinweg ein anderes Aussehen vorzugaukeln. Sophie würde weder übermüdete noch verkaterte Vampire auf ihrem Ball dulden, da war sich Franz-Josef sicher. Ein Scheitern der Tarnung wäre erstens peinlich gewesen und hätte zweitens die Keulung der menschlichen Gäste nach sich gezogen. Hysterische
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