SISSI - Die Vampirjägerin
erstarrt ist wie er selbst. Neue Erkenntnisse und Erfindungen tragen nicht zu seinem Wohlbefinden bei. Ginge es nur nach ihm, wäre das Feuer nie bezwungen worden, denn er braucht keine Wärme und zieht keinen Vorteil aus gekochter Nahrung. Der Mensch hingegen strebt stets nach einer Verbesserung seiner Lebensumstände, nicht zuletzt, weil sein Körper so fragil und seine Lebenserwartung so kurz ist. Diese beiden Philosophien, die der Stagnation und die der kontinuierlichen Anstrengung, stehen einander unvereinbar gegenüber.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Sie hatte sich von allen verabschiedet, von Frau Huber, den Knechten, ihrem Pferd und den Buben. Theodor schien es als Einzigen der Jungen zu berühren, dass er sie so bald nicht wiedersehen würde. Er hatte sie umarmt, fest an sich gedrückt und: »Ich werde kein Ungeheuer, ich verspreche es dir«, geflüstert. Noch nie zuvor hatte einer der Buben erkennen lassen, dass er wusste, was er war.
Néné und ihre Mutter hatten geweint, als sie Sissi zur Kutsche brachten, ihr Vater war mit starrer Miene neben ihnen hergegangen. Ihn traf ihre Abreise am härtesten, das wusste sie. Deshalb versuchte er wohl mit solcher Mühe, die Fassung zu bewahren. Sie wünschte, er hätte es nicht getan. Es fiel ihr schwer, in sein regloses Gesicht zu blicken und darin den Vater zu erkennen, von dem sie wusste, dass er sie liebte.
Sie hatte ihn als Letzten umarmt. »Wir werden uns wiedersehen. Es ist noch nicht vorbei.«
Er hatte nicht geantwortet, sie aber erst losgelassen, als Prinzessin Ludovika seine Schulter berührte. »Sie muss abfahren. Es liegt noch ein langer Weg vor ihr.«
»Ich weiß.«
Und dann war sie in die Kutsche gestiegen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, hatte sie das Haus ihrer Kindheit verlassen und war nach Wien aufgebrochen. Sie wurde nur von zwei Kutschern begleitet und reiste in einem schlichten, von zwei Pferden gezogenen Gefährt. Ihre Eltern wollten nicht, dass Sissi Aufsehen erregte. Es gab Banditen – und vielleicht sogar Anarchisten –, die alles getan hätten, um die zukünftige Kaiserin von Österreich in ihre Gewalt zu bringen.
Kaiserin von Österreich. Der Titel klang fremd und beängstigend, so als gehöre er zu einer anderen, einer reiferen Frau und nicht zu ihr. Sie war keine Kaiserin. Sie war die Sissi, ohne Titel, ohne Majestätsanrede, einfach nur die Sissi. Etwas anderes hatte sie nie sein wollen.
Aber ich werde etwas anderes sein, für Néné, für Vater, für Mutter, für die Cousins, egal, wie schwer es mir auch fallen mag.
In ihrem Kopf schwirrte all das umher, was sie in den vergangenen drei Wochen gelernt hatte. Wie verwirrte Motten bei einem Lichterfest. Ungarische Vokabeln mischten sich mit den Abläufen des Spanischen Hofzeremoniells, wie es am kaiserlichen Hofe herrschte, und Regeln für den Bombenbau. Alles war so viel schwerer, als sie gedacht hatte. Zum Glück verfügte der Cousin in Wien über genügend Wissen, um ihre technische Unkenntnis zu kompensieren. Er würde die Schießpulvermischung bei seinen Besuchen in den Palast schmuggeln und ihr erklären, wie sie die Bombe zu bauen hatte. Es war gefährlich, aber es gab keinen anderen Weg. Sie selbst konnte die Bestandteile nicht in ihrem Gepäck mit in den Palast bringen. Der Sprengstoff war so instabil, dass sie damit wahrscheinlich die Kutsche in die Luft gejagt hätte, samt der umliegenden Ländereien. Néné hätte die Bombe einfach aus den Dingen bauen können, die sich ohnehin im Palast fanden, Sissi nicht. In den ganzen drei Wochen hatte sie nur eine Bombe korrekt zusammengebaut, aber anschließend fallen lassen, als sie ihrem Vater davon erzählen wollte. Das war ein nicht gerade überwältigendes Ergebnis.
Der Cousin wird’s schon richten, dachte Sissi.
Müde legte sie den Kopf gegen die gepolsterte Wand der Kutsche und streckte die Beine aus. Ihre Zehen stießen gegen etwas Hartes. Sissi zog den Vorhang, der den Innenraum der Kutsche verdunkelt hatte, vom Fenster zurück und beugte sich vor. Unter dem gegenüberliegenden Sitz lag ein langer, in Stoff eingeschlagener Gegenstand. Sie zog ihn hervor, hob ihn auf ihre Oberschenkel und begann, die Stricke zu entknoten. Noch bevor sie den Stoff zurückschlug, wusste sie bereits, was sich darin befand. Eine stählerne Klinge blitzte im Sonnenlicht auf, der lange schwarze Griff war mit eingearbeiteten japanischen Schriftzeichen verziert. Es war das Katana ihres Vaters, seine Lieblingswaffe, die Sissi
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