SISSI - Die Vampirjägerin
wegsehen. Panik stieg in ihr auf, instinktiv und unkontrollierbar. Sie fühlte sich, als sei sie im Körper einer Toten eingeschlossen.
»Komm«, sagte der Vampir.
Franz-Josef trat in ihr Gesichtsfeld. Er bewegte sich langsam und steif, als kämpfe er gegen einen fremden Willen.
»Es ist sinnlos, sich zu wehren«, sagte der Vampir. »Du wirst mich zum Ballsaal bringen, ob du es wünschst oder nicht. Komm jetzt.«
Sissi konnte nicht sagen, woher sie wusste, dass er nicht mit seiner eigenen Stimme sprach. Jemand beherrschte ihn ebenso wie sie und Franz-Josef.
Wer ist das?, fragte sie sich nervös. Was geht hier vor?
Der Vampir sprang vom Tisch und lief durch den Raum. Zuerst verschwand er aus Sissis Gesichtsfeld, dann Franz-Josef. Eine Tür fiel ins Schloss.
Kalter Wind strich über Sissis Rücken. Der Arm, mit dem sie ausgeholt hatte, begann zu schmerzen.
Lasst mich nicht zurück, schrie sie, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam oder ihre Kehle sich auch nur bewegte. Helft mir doch.
Nach einigen Minuten ließ die Panik nach. Ihr wurde kalt. Ihr Arm schmerzte, ihr Rücken schmerzte, das Bein, das sie belastet hatte, um Schwung in ihren Schlag zu legen, schmerzte ebenfalls. Und ihre Blase … Oh nein, nicht auch das noch, dachte Sissi.
Sie verkrampfte sich innerlich, stemmte sich gegen die Starre, legte alle Kraft, die sie aufbringen konnte, in den Versuch, zumindest die Finger zu bewegen, einen Finger, die Fingerspitze.
Irgendwann, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, begann die Scherbe in ihrer Hand zu zittern. Ihr Arm senkte sich, bis er an ihrer Seite herabhing. Die Scherbe fiel zu Boden.
Sissi ballte die Faust, öffnete sie wieder und spürte, wie die Starre langsam aus ihrem Körper wich. Sie zwang ihr rechtes Bein, einen Schritt nach vorn zu machen. Ihr linkes folgte so widerwillig, dass sie beinah in die Scherben am Boden gestürzt wäre. Erschrocken hielt sie sich am Schreibtisch fest und war überrascht, dass es ihr gelang.
Steif wie eine alte Frau ging sie zur Tür und zog sie auf. Der Gang lag verlassen und still vor ihr. Sissi sah sich kurz um. Es war niemand zu sehen, ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Normalerweise kamen die Vampire mit Einsetzen der Dunkelheit aus ihren Zimmern, trafen sich in den Gängen und taten das gleiche langweilige Zeug, mit dem sich die Menschen bei Tag beschäftigten. Abgesehen von den Blutorgien natürlich, obwohl Sissi die nur aus den Erzählungen ihres Vaters kannte. Selbst gesehen hatte sie bislang keine.
Sie machte einen kurzen Umweg über das Bad neben Franz-Josefs Arbeitszimmer, dann ging sie an offen stehenden Türen vorbei, durch die sie in Zimmer voller Scherben sehen konnte, in Richtung Ballsaal.
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
Es gibt keine Fähigkeit der Vampire, die mehr Unbehagen auslöst als das sogenannte Betören. Beim Betörten führt sie zu einem Verlust des Willens und des Gedächtnisses, im schlimmsten Fall mit bleibenden Schäden, die Geisteskrankheiten oder Verdummung auslösen.
In der Hand eines starken Vampirs ist das Betören ein Werkzeug von unglaublicher Präzision. Es vermag den Menschen in einer Menge die Erinnerung an ein einziges Gesicht zu nehmen oder einen stundenlangen Gesprächspartner davon zu überzeugen, ein gemeinsames Mahl eingenommen zu haben, wenn in Wirklichkeit nur die Erinnerung daran, dass nicht gegessen wurde, fehlt.
Unter den Kindern Echnatons gibt es gelegentlich philosophische Diskussionen über die Frage, ob vielleicht die ganze Welt aus Betörten besteht und niemand von uns weiß, wie sie wirklich aussieht.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
So muss es sein, wenn Menschen träumen, dachte Franz-Josef. Es fühlte sich an, als befinde er sich unter Wasser. Alles war gedämpft und verlangsamt, verschwommen und grau. Er sah Palastbewohner, die wie er zusammen mit wilden Vampiren zum Ballsaal gingen. Es waren nur Vampire, er sah keinen einzigen Menschen unter ihnen. Sie alle hatten den gleichen verwunderten Gesichtsausdruck und er befürchtete, dass er nicht anders aussah.
Seine Gedanken wälzten sich mit quälender Langsamkeit durch seinen Kopf.
Ich muss mich konzentrieren.
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gedacht, da stand er bereits im Ballsaal.
Wie bin ich hierhergekommen? Er konnte sich kaum an den Weg erinnern.
»Bleib stehen«, sagte der wilde Vampir.
Franz-Josef blieb stehen. Um ihn herum füllte sich langsam der Saal. Die Diener mussten ihn bei Tag gereinigt haben, denn die
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