SISSI - Die Vampirjägerin
Gott, dachte Franz-Josef. Was denn jetzt noch?
»Es geht um Edgar.«
KAPITEL DREISSIG
Seit Beginn der Aufklärung nimmt auch unter den Kindern Echnatons der Wunsch zu, die Existenz der Vampire auf natürliche Art zu erklären und ihnen so wie Ratten, Wölfen und anderem Getier ihren natürlichen Platz in der Welt zuzuordnen. Das fällt vielen immer noch schwer, müssen sie sich doch der Frage stellen, warum ein Schöpferwesen nicht nur eine, sondern zwei vernunftbegabte Spezies erschaffen hat. Darauf folgt beinah zwingend die Frage, ob es tatsächlich nur ein Schöpferwesen gibt.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Hältst du das wirklich für klug?«, flüsterte Sissi, während sie sich hinter Franz-Josef durch die Dienstbotengänge tastete. »Was, wenn sie dich erwischen?«
»Sie sind alle blind«, gab er ebenso leise zurück. »Was soll da passieren?«
»Und wie lange wird das anhalten?« Sie hatte den Eindruck, dass er die Gefahr unterschätzte. Wenn sie wenigstens gewusst hätten, ob Seine Eminenz und die wilden Vampire sich noch in der Hofburg aufhielten, wäre Sissi wohler gewesen.
»Ein oder zwei Tage.« Franz-Josef blieb an der Tür zum Ballsaal stehen. »Je nachdem, wie viel und wie gut sie trinken.«
Er zog die Tür einen Spalt auf, sah ins Innere des Saals und öffnete sie dann vollständig. »Sie sind weg. Komm, ich bringe dich in deine Gemächer. Da bist du sicher vor ihnen.«
Sissi folgte ihm in den Ballsaal und achtete dabei sorgfältig darauf, nicht in die Pfützen aus schwarzem Vampirblut zu treten, die den hellen Marmorboden verschmierten.
»Und was machst du, während ich sicher bin?«, fragte sie. Es war ihr bereits klar, dass sie nicht tun würde, was er verlangte.
»Ich werde mir die Papiere ansehen, die ich unterschrieben habe.« Franz-Josef blieb am Ausgang stehen und lauschte, bevor er auch diese Tür öffnete. »Ludwig bewahrt Kopien von allen Akten in meiner Bibliothek auf.«
Der Gang vor dem Ballsaal war verlassen und still. Sissi fragte sich, wie es den blinden Vampiren gelungen war, aus dem Saal herauszufinden. Sie nahm an, dass die Diener Seiner Eminenz ihnen geholfen hatten.
»Ich komme mit«, sagte sie.
»Nein, das ist zu gefährlich.« Franz-Josef drehte sich zu ihr um. Die Anspannung grub steile Falten in seine Stirn. »Sissi, jeder Vampir, der die Prüfung absolviert hat, giert nach Blut. Wenn sie dich riechen …« Er brach den Satz ab.
Sissi hob die Schultern. »Sie sind blind«, zitierte sie. »Was soll da passieren?«
Franz-Josef presste die Lippen zusammen.
Sissi grinste.
Er brachte sie dazu, zumindest das Katana aus ihren Gemächern zu holen und Lavendelöl über ihr Kleid zu schütten. Dann gingen sie, ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, zu Franz-Josefs Privatgemächern. Sissi sah sich immer wieder um, entdeckte aber nur einmal einen Vampir, der sich mehr als einen Steinwurf entfernt an der Wand entlangtastete.
Die Gemächer des Kaisers nahmen einen ganzen Trakt ein. Es gab mehrere Salons, Bäder, Räume, die einfach nur ohne Zweck zu existieren schienen, und ein Schlafzimmer. Die Bibliothek, ein zweistöckiger, dunkel getäfelter Raum, lag am Ende des langen Gangs.
Lautlos zog Franz-Josef die Tür auf und schloss sie wieder, nachdem Sissi eingetreten war. Sie fand einen Leuchter und Streichhölzer auf einem kleinen Tisch neben der Tür und zündete die Kerzen an. Sie war noch nie zuvor in der Bibliothek gewesen. Neugierig betrachtete sie die Folianten und Bücher in den prall gefüllten Regalen.
Franz-Josef stand bereits auf der Treppe, die zur Galerie im zweiten Stock führte. Dort stapelten sich Akten und Papiere.
»Wie sollen wir hier irgendwas finden?«, fragte Sissi.
Franz-Josef legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Leise. Ich weiß nicht, ob Ludwig sich in der Nähe aufhält.«
Schweigend begannen sie in den Stapeln nach den Papieren zu suchen, die Edgar Sissi gegeben hatte. Vor jedem Stapel befanden sich mit Kreide auf den Boden gezeichnete Kürzel, die auf Sissi anfangs wie Zufallsprodukte wirkten. Sie schätzte, dass sie schon eine Stunde lang sinnlos Akten gewälzt hatten, als sie das System hinter den Zeichen endlich durchschaute.
Sie hockte sich neben Franz-Josef. »Er sortiert sie nach Datum und Wichtigkeit«, sagte sie leise. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die Kürzel vor sich auf dem Boden. »53 XI 02 NU heißt, nicht unterschriebene Akten vom 02.11.1853.«
Franz-Josef zog wahllos einige Blätter
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