Sisters of Misery
bevor sie mit dem Auspacken einer Kiste begann. Sie wickelte Flaschen, Apothekertiegel und Vasen aus dem Papier und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Hinterzimmer.
»Warum gehst du nicht nach hinten zu Cordelia und hilfst ihr, während ich hier vorne weitermache? Dann könnt ihr euch gleich ein bisschen besser kennenlernen«, schlug sie vor. Maddie nickte wenig begeistert und ging auf das Hinterzimmer zu.
»Ich habe das Gefühl, dass ihr beiden euch ganz hervorragend verstehen werdet«, raunte Rebecca ihr hinterher. Maddie drehte sich noch einmal um und rang sich ihrer Tante zuliebe ein kleines Lächeln ab. Sie konnte verstehen, warum Rebecca es gerne sehen würde, wenn sie Freundinnen werden könnten. Aber so wie es aussah, würde das gar nicht so einfach werden.
Als sie sich vorsichtig an den wackeligen Kartonstapeln im Hinterzimmer vorbeischob, hörte sie hinter einer Holzkiste ein Geräusch, das wie ein unterdrücktes Stöhnen klang. Als sie nachschaute, sah sie Cordelia vornübergebeugt - das Gesicht von ihren langen roten Haaren wie von einem schweren Brokatvorhang verdeckt - im Schneidersitz auf dem Boden sitzen. Im Schoà hielt sie einen Bilderrahmen, auf dessen Glas schwere Tränen tropften. Leise weinend wiegte sie sich langsam vor und zurück.
»Was hast du denn?«, flüsterte Maddie erschrocken.
Cordelia fuhr zusammen, erstarrte und wischte sich mit
dem Flügelärmel ihrer Tunika über die Wange. Sie stand auf und klopfte sich den Staub ab. An ihren Wimpern hingen Tränen, doch ihr ausdrucksloser Blick zeigte keinerlei Emotion.
»Nichts«, sagte sie und vermied jeglichen Augenkontakt mit Maddie.
»Wer ist das?« Maddie zeigte auf den Rahmen.
»Mein Vater. Er ist tot«, erwiderte ihre Cousine knapp.
»Ich weiÃ. Das tut mir schrecklich leid.«
»Warum sollte dir das leidtun? Du kanntest ihn doch gar nicht. Du weiÃt nichts über uns.« Sie drehte sich hastig um und machte sich daran, eine Kiste auszupacken.
»Seid ihr deswegen nach Hawthorne gezogen?«, fragte Maddie, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
Cordelia warf ihr einen prüfenden Blick zu und schien zu überlegen, ob sie sich auf die Unterhaltung einlassen sollte oder nicht.
»Meine Mutter ertrug es nach seinem Tod nicht mehr, in unserem Haus zu leben. AuÃerdem hätten wir es uns sowieso nicht mehr leisten können. Unser ganzes Geld ging für die Behandlung drauf.«
»Behandlung?«, fragte Maddie. »Woran ist er denn ⦠ähm ⦠gestorben?«
»Am groÃen K.«
»Krebs?«
Cordelia packte weiter die Kiste aus, als wäre es eine rein rhetorische Frage gewesen.
»Und deswegen seid ihr hier?«
»Du hast es erfasst.«
Zwischen den beiden breitete sich ein ungemütliches Schweigen aus. Cordelia hatte offensichtlich nicht vor, noch weiter ins Detail zu gehen, und betrachtete das Gespräch als beendet. Aber so leicht wollte Maddie sich diesmal nicht abwimmeln
lassen. Sie musste wenigstens versuchen, sich mit ihr anzufreunden, schlieÃlich wohnten sie unter demselben Dach zusammen. Sie setzte sich neben ihre Cousine auf den Boden, zog einen der noch geschlossenen Kartons zu sich heran und begann, ihn auszupacken.
»Ich hab meinen Vater an die groÃe M.S. verloren«, sagte Maddie.
»Multiple Sklerose?«
»Nein, Mindy Sherman, die Barfrau, mit der er abgehauen ist«, antwortete Maddie trocken.
Cordelia stutzte, dann grinste sie. Sie deutete mit dem Kopf auf eine Kiste, und sie machten sich gemeinsam daran, sie auszupacken. Zu behaupten, sie wären am Ende dieses Tages beste Freundinnen gewesen, wäre zu viel gesagt. Aber es war definitiv ein Anfang.
Später, nachdem Rebecca nach einem langen Arbeitstag im Laden vor lauter Erschöpfung wie bewusstlos ins Bett gefallen war und Abigail sich wie jeden Abend mit einem Buch auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, hörte Maddie ein leises Klopfen an ihrer Tür. Cordelia stand in einem langen weiÃen Nachthemd vor ihr.
»Tess möchte mit uns reden«, sagte sie zögernd. Trotz ihres zarten Freundschaftsversuchs von heute Mittag schien Cordelia noch nicht wirklich überzeugt zu sein. Beim Abendessen hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt und danach hatte Cordelia ihre Nase sofort in ein Buch gesteckt. Als hätte der Moment, in dem sie gemeinsam gelacht hatten, nie existiert. Sie war, wie Tess gerne
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