Sisters of Misery
richtete sich kerzengerade auf und zeigte ein breites Grinsen. »Istâne kleine Stadt hier, Maddie. Verdammt klein.«
20
SOWILO
SONNE
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Geheimnisse werden mithilfe spiritueller
Energie offenbart; geschärfter Weitblick,
Hoffnung und Gerechtigkeit
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M addie saà in der ehrwürdigen Eldridge-Bibliothek und blätterte durch Zeitungsartikel und Polizeiprotokolle. Irgendjemand beobachtete jeden ihrer Schritte und verfolgte wachsam ihre Nachforschungen. Also hatte sie beschlossen, sich von dem Drohbrief nicht einschüchtern zu lassen und mit ihren Recherchen fortzufahren - in der Hoffnung, den anonymen Verfasser so aus seiner Deckung locken zu können. Nach einer Weile stand sie auf, schlenderte langsam eine Regalreihe entlang und tat so, als suche sie nach etwas, wobei sie unauffällig ihre Umgebung im Auge behielt. Stand vielleicht irgendwo ihr Verfolger und beobachtete sie? Nachdem sie ungefähr eine Stunde lang nur so getan hatte, als recherchiere sie, beschloss sie, sich in den Computerraum zu setzen und tatsächlich ein paar Online-Recherchen durchzuführen. Sie fand einige Artikel der hiesigen Zeitungen über Cordelias Verschwinden, aber die meisten davon vertraten die Annahme, dass es sich nur um eine ausgerissene Jugendliche handelte. Als sie merkte, dass sie so nicht weiterkam, zog sie ihr Traumtagebuch aus ihrer Ledertasche und blätterte auf der Suche nach einem ganz bestimmten Eintrag ungeduldig die Seiten durch. Nachdem sie
ihn gefunden hatte, gab sie bei Google die Worte ein, die ihr seit ihrem Traum aus jener Nacht nicht mehr aus dem Kopf gegangen waren: Tu, was du willst, so soll sein das ganze Gesetz. Was konnte dieser Satz bedeuten? Sie wollte gerade auf Enter drücken, als sich von hinten zwei starke Hände auf ihre Schultern legten. Sie zuckte vor Schreck zusammen.
»Wenn du auf der Suche nach einem guten Buch bist, gebe ich dir gerne ein paar Anregungen«, ertönte eine Stimme über ihr. »Ich verspreche auch, dass es keine lehrplanmäÃige Pflichtlektüre sein wird.«
Sie drehte sich um und blickte in Reeds lächelndes Gesicht. Er trug ein dunkelblaues Oxford-Hemd und Kakis und sah zusammen mit seiner Nickelbrille aus wie der Inbegriff eines Highschool-Englischlehrers - wären da nicht seine zerzausten, halblangen Haare gewesen, die ihn eher wie ein Model denn wie einen ehemaligen Dozenten an der Hawthorne Academy wirken lieÃen.
Er bedeutete ihr, kurz zu warten, und verschwand eilig in einem der Gänge. Es überraschte Maddie nicht, ihn hier in der Bibliothek anzutreffen. Seine Leidenschaft für Bücher und die Lesegewohnheiten seiner Schüler war legendär. Sie dachte daran, mit welcher Begeisterung er immer seinen Englischunterricht gestaltet hatte. Im Gegensatz zu den anderen Lehrern, die sie über die Jahre gehabt hatte, schien ihn sein Fach nie zu langweilen, und ganz egal welchen Stoff sie im Unterricht durchnahmen, er hatte ihnen alles mit dem gleichen Enthusiasmus nähergebracht, ob es nun William Shakespeare, Alfred Tennyson, William Faulkner oder Ernest Hemingway oder auch zeitgenössische Schriftsteller wie Jonathan Franzen, Joyce Carol Oates oder Toni Morrison gewesen waren.
Am Ende jeder Stunde schrieb er immer ein Zitat an die Tafel, und wer herausfand, aus welchem berühmten literarischen Werk es stammte (was kaum jemand ohne das Internet
schaffte, obwohl sie es eigentlich nicht nutzen sollten), bekam Zusatzpunkte gutgeschrieben. Als er irgendwann mitbekam, dass ein GroÃteil seiner Klasse online ging, um die Zitate zu finden, bekamen nur noch diejenigen Extrapunkte, die das Buch oder das Stück, aus dem das Zitat stammte, wirklich gelesen hatten.
Anfang Herbst letzten Jahres lehnte er eines Freitagnachmittags an seinem Pult und blickte mit schief gebundener Krawatte, zerknittertem Hemd und kreideverschmierter Hose aufmerksam in die Gesichter seiner Schüler. Er hätte genauso gut einer von ihnen sein können. Er war so jung und voller Energie, dass einzig sein Pult ihn vom Rest der Klasse trennte, warum er wohl auch selten dahinter saÃ. Die Mädchen hingen an seinen Lippen, die Jungs vergötterten ihn - er war die perfekte Personifizierung eines Lieblingslehrers.
An der Tafel stand das Zitat des Tages.
»Und, hat irgendjemand von Ihnen eine Ahnung, von wem das stammen könnte?«, fragte er.
»Kann das nicht bis nächste Woche warten, Reed? Es
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