Sisters of Misery
Sachen.«
»Grams, hier ist kein Mädchen, okay?«, sagte sie laut und bestimmt. Sie lieà langsam den Blick durch den Raum wandern, dann ging sie zum Fenster zurück und spähte hinaus. Kein Mensch würde an der Eiche hochklettern können, deren
Ãste nach oben hin immer dünner wurden, ohne dass es jemand von den Nachbarn mitbekommen hätte. Um trotzdem kein Risiko einzugehen, lieà sie den schweren Fensterriegel einschnappen und zog fest die Vorhänge zu.
»Ich möchte, dass du das Fenster von jetzt an immer verschlossen hältst, hast du gehört, Tess? Und wenn du irgendetwas Seltsames hörst oder mich brauchst, dann rufst du mich, ja?«, flüsterte sie und atmete tief durch, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Sie beugte sich noch ein wenig tiefer zu ihr hinunter und horchte auf eine Antwort, aber ihre GroÃmutter war schon wieder eingeschlafen.
Leise huschte sie zur Tür, als sich etwas Spitzes in ihre FuÃsohle bohrte. Sie stieà einen unterdrückten Fluch aus, woraufhin Tess sich auf die andere Seite drehte und irgendetwas Unverständliches murmelte, und ging dann in die Hocke, um den Gegenstand, auf den sie getreten war, aufzuheben. Er hing an einem dünnen Band und fühlte sich glatt und gleichzeitig scharfkantig an. Sie schloss behutsam Tessâ Tür hinter sich und machte im Flur das Licht an, um ihn sich besser anschauen zu können.
Es war Cordelias Quarzanhänger. Aber wie war er in Tessâ Zimmer gekommen? Sie hielt ihn an seinem Band in die Höhe, lieà ihn vor ihrem Gesicht baumeln und betrachtete ratlos den im Flurlicht funkelnden Kristall. Dann lieà sie ihn in ihrer Hand verschwinden und ging leise in ihr Zimmer zurück.
Erst dort fiel ihr wieder ein, was sie eigentlich im Zimmer ihrer GroÃmutter gewollt hatte. Cordelias Kette zu finden, hatte sie so aus der Fassung gebracht, dass sie das Weinen beinahe wieder vergessen hatte.
Vielleicht hatte Tess im Schlaf geweint. Oder es hatte sich eine streunende Katze auf dem Dach herumgetrieben - das Maunzen einer läufigen Katze konnte sich wie das Wimmern
eines kleinen Kindes anhören. Aber so wirklich glaubte sie selbst nicht an ihre Erklärungsversuche. Dafür hatten sich die Laute viel zu nah und zu echt angehört. Als sie wieder ins Bett schlüpfte und sich unter die Decke kuschelte, dachte sie an die Gruselgeschichten, die Cordelia ihr immer erzählt hatte - darunter auch die aus dem irischen Volksglauben stammende Legende von der Banshee, der »Geistf rau«, die vor den Fenstern einer Familie kauerte und mit traurigen Klagelauten den nahenden Tod eines Familienmitglieds ankündigte.
Und als sie sich dann kurz vor dem Einschlafen in jenem schwerelosen Zustand befand, in dem der Geist völlig frei ist und oft die genialsten und wahrhaftigsten Gedanken hervorbringt, die jedoch schon beim ersten Tagesgrauen nicht mehr greifbar sind - genau in diesem Moment verstand sie die Bedeutung des Poe-Zitats, das sie in Cordelias Tagebuch gelesen hatte.
Bei der Liebe Gottes, kehrten die Worte aus Reed Campbells Englischunterricht in ihre Erinnerung zurück. In pace requiescat. Als Maddie sich in dieser Nacht unruhig hin- und herwälzte, geisterte unaufhörlich Edgar Allan Poes schaurige Erzählung »Das Fass Amontillado« durch ihre Träume. Nur dass Cordelia darin das Opfer war, das Stein für Stein für Stein bei lebendigem Leibe begraben wurde. Ihr fuhr es kalt den Rücken hinunter, als ihr im Halbschlaf wieder Tessâ harmlos wirkende Träume von Steinen einfielen. Waren etwa auch sie prophetischer Natur gewesen?
Wagst du es,
das Geheimnis zu enthüllen,
Cordelias Schicksal
wird sich auch für dich erfüllen.
Von einem Klopfgeräusch aus ihren bedrohlichen Träumen gerissen, wachte Maddie schweiÃgebadet auf. Während sie sich benommen auf richtete, wurde ihr auf einmal klar, dass es etwas gab, das ihr noch mehr Angst einjagte, als herauszufinden, was in jener Halloween-Nacht auf Misery Island geschehen war. Etwas, das ihr das Blut in den Adern gef rieren lieÃ.
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Cordelia würde bald zurück sein. Und sie würde nur einen Gedanken haben: Rache.
23
PERTHRO
WÃRFELBECHER
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Geheimnis, unerwartete Wendung,
Macht des Schicksals und der eigenen Bestimmung
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M addie sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Unwillkürlich musste sie an das Gespräch mit Tess
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