Sisters of Misery
geisterhaften Gesichter lebendig werden zu lassen. »Man darf sie auf keinen Fall direkt ansehen«, hieà es unter den Leuten, »sonst holt einen der Tod.« Manche glaubten fest daran, dass die in den Stein geritzten Gesichter eine Mahnung an das grausame Schicksal der drei Mädchen waren, damit die Einwohner Hawthornes so etwas nie wieder geschehen lassen würden.
Nie, nie, nie wieder.
Wenn die Menschen am Ravenswood Asylum vorbeikamen, wandten sie aus abergläubischer Furcht den Blick ab - genau wie Kinder, die unwillkürlich die Luft anhalten, wenn sie über einen Friedhof gehen. Das betagte Gebäude war auf den Grundmauern eines ehemaligen Forts errichtet worden, von dem aus während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs der Hafen von Hawthorne verteidigt worden war. Die Zeit, in der es als Gefängnis genutzt wurde, war ein dunkler Punkt in der Stadtgeschichte, über den niemand gerne sprach. Vor fast einem Jahrhundert war es dann schlieÃlich wieder in Betrieb genommen worden, dieses Mal jedoch, um eine ganz andere Art von Insassen aufzunehmen, nämlich Menschen, die Gefangene ihres eigenen Geistes waren. Das Ravenswood Asylum war eine staatliche Anstalt für psychisch kranke Menschen.
Niemand wusste, wann die Gesichter in die Steinmauer geritzt wurden oder von wem. Sie waren einfach da und sorgten dafür, dass niemand sie vergaÃ.
Alle Versuche, die Gesichter zu entfernen, waren gescheitert. Spätestens nach einer Woche waren der Putz und der Mörtel, den man in die starrenden Fratzen und leeren Augenhöhlen gespachtelt hatte, abgebröckelt, und die Gesichter der Mädchen erschienen wieder an der Oberfläche. Sie starrten jeden Passanten herausfordernd an und schienen fest entschlossen, bis in alle Ewigkeit zu überdauern, um ihre Geschichte
zu erzählen und die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Maddie hatte ihnen bisher kaum Beachtung geschenkt und nie viel auf die Horrorgeschichten über die grausame Folterung der Schwestern gegeben, die fälschlicherweise der Hexerei angeklagt und von einer ganzen Gemeinde geächtet worden waren. Trotzdem widerstrebte es ihr, Cordelia die Mauer zu zeigen, die das Schicksal dieser drei jungen Frauen verewigte. Zumindest wollte sie lieber noch ein bisschen damit warten. Der Grund dafür waren die schrecklichen Träume, die sie neuerdings hatte.
In ihren jüngsten Albträumen war nämlich ein viertes Gesicht aufgetaucht.
Das Gesicht eines jungen Mädchens, das sie mittlerweile nur allzu gut kannte.
Das Gesicht von Cordelia.
»Ich bin so aufgeregt, als wäre es mein erster Schultag hier«, sagte Maddie, als sie und Cordelia, mittlerweile wieder in normalem Schritttempo, den schmalen Pfad zur Schule hinaufgingen.
Seit sie und Cordelia so gute Freundinnen waren, hatte sie ihre Schüchternheit und Unsicherheit etwas abgelegt. Es war, als hätte etwas vom unerschütterlichen Selbstbewusstsein ihrer Cousine auf sie abgefärbt. Kaum zu glauben, dass sie tatsächlich miteinander verwandt waren. Im Gegensatz zu Maddie, die schon immer eher ein Mauerblümchen gewesen war, strahlte Cordelia eine natürliche Gelassenheit und Selbstsicherheit aus. Maddie war sich zwar nicht sicher, ob ihre Freundinnen sich darum reiÃen würden, mit diesem geheimnisvollen, aber extrem coolen Mädchen aus Kalifornien
befreundet zu sein - aber sie hoffte zumindest, dass die anderen sie gnädig aufnahmen.
»Da drüben sind sie.« Maddie winkte einer Gruppe von Mädchen, die in einem engen Kreis zusammenstanden und eine beinahe greifbare Aura der Unnahbarkeit verströmten. Kate drehte sich um und bedeutete den beiden mit einer knappen Handbewegung, zu ihnen zu kommen - beinahe wie eine Türsteherin, die gnädig Einlass in einen hochexklusiven Club gewährt. Maddie beobachtete, wie die Blicke ihrer Freundinnen von Cordelias bis zu den Waden geschnürten Espadrilles über ihr buntes Blumenkleid wanderten und schlieÃlich mit arroganter Gleichgültigkeit auf ihrem Gesicht verharrten.
»GroÃer Gott, das sind ja die reinsten Barbieklone«, murmelte Cordelia. »Benutzen die etwa alle das gleiche Haarfärbemittel, oder was?«
Maddie warf ihrer Cousine einen finsteren Blick zu. Sie wollte, dass dieses erste Treffen so glatt wie möglich verlief. Aber als sie ihre Freundinnen noch einmal ansah, wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich alle
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