Sisters of Misery
Aber warum waren ihre Erinnerungen an jene Nacht dann so verschwommen? War es möglich, dass sie alles, was in dieser Nacht passiert war, verdrängte, weil sie verantwortlich war?
Wütend und verwirrt sprang sie auf und wandte sich zum Gehen. Kate hatte eindeutig eine Grenze überschritten und schien sich darüber auch im Klaren zu sein.
»Nicht, Maddie! So habe ich es nicht gemeint. Hey, tut mir leid, okay?«, rief sie. »Ich wollte dich nur ein bisschen aufziehen. Komm, setz dich wieder hin, ja?«
Zögerlich lieà Maddie sich auf die Couch zurücksinken. Kate verschwieg ihr irgendetwas. Das spürte sie ganz deutlich.
»Dass du nichts mit Cordelias Verschwinden in dieser Nacht zu tun haben kannst, ist ja klar, oder?« Kates rhetorische Frage und ihr singender Tonfall hallten dröhnend in Maddies Kopf wider. Sie versuchte, ihren Verstand dazu zu zwingen, sich an die Ereignisse jener Nacht zu erinnern. Aber die Bilder blieben seltsam vage wie bei einem Film, den sie vor langer Zeit
gesehen hatte, an dessen Handlung, Dialoge oder Schauspieler sie sich aber nicht mehr erinnern konnte.
»Ich gebe ja zu, dass wir ein bisschen zu weit gegangen sind, aber als wir sie dort zurückgelassen haben, ging es ihr gut. Mehr gibtâs dazu nicht zu sagen.«
Kates Handy klingelte. Sie warf einen Blick auf die Nummer im Display und hob es an ihr Ohr. Dann streckte sie die Beine auf der jacquardbezogenen Chaiselongue aus und sah aus den bodenlangen Fenstern auf die mit unregelmäÃig geformten Natursteinen geflieste Terrasse, die auf den Hafen von Hawthorne hinausging. »Hallo!«, begrüÃte sie den Anrufer. Maddie folgte ihrem Blick auf die Terrasse und musste plötzlich an die »Einführungsveranstaltung« für die Hockeymannschaft in der achten Klasse denken. Sie und Kate waren an einem ungewöhnlich kalten Septemberabend gemeinsam mit zehn anderen Mädchen auf diese Terrasse gesperrt und dazu gezwungen worden, ein halbes Fass Bier auszutrinken. Die Einführung fand bei den Endicotts statt, weil Kates ältere Schwester Carly damals der Captain der Mannschaft war. Was allerdings nicht bedeutete, dass Kate leichter davonkam als die anderen Mädchen. Wenn überhaupt, erwischte es sie sogar noch härter.
Als sie irgendwann alle völlig betrunken gewesen waren, kritzelten ihnen die älteren Mädchen aus dem Team mit wasserfesten Stiften Wörter wie Hure, Lesbe oder Nutte auf die Stirn. Ein paar von ihnen wurden danach sogar noch auf die Einführungsparty des Footballteams geschleppt und mit willkürlich ausgesuchten Jungen in ein Zimmer gesperrt. Anderen wurden die Haare mit einem stumpfen Schweizer Armeemesser abgesäbelt.
Einige der Mädchen hatten vor Angst und der entsetzlichen Demütigung geweint, nicht aber Kate. Sie hatte von klein auf gelernt, die Gemeinheiten ihrer älteren Schwester auszuhalten
- ob es nun der abgerissene Kopf von ihrer Lieblingspuppe oder ein im Schlaf in ihre langen Haare geklebter dicker Kaugummiklumpen war. Wenn Kate als kleines Mädchen in solchen Momenten weinte, hatte Kiki Endicott ihr ordentlich die Leviten gelesen und sie ermahnt, sich ein dickeres Fell zuzulegen und härter zu werden. »Im Leben geht es nie fair zu, Kate. Je eher du das begreifst, desto besser.« Das war das Endicottâsche Familienmantra.
Als Maddie an diesem Nachmittag mit Kate zusammensaÃ, kam ihr plötzlich die Erkenntnis, dass die Endicotts mit ihrer Devise wahrscheinlich recht hatten. Das Leben war tatsächlich nicht fair, und es gab nichts, das Maddie, Rebecca, Tess oder sogar Cordelia daran ändern konnten. Wollte Maddie das Geheimnis um Cordelias rätselhaftes Verschwinden lüften, musste sie weiterhin Kates Freundin spielen.
Nachdem Kate den Anrufer - wer auch immer es gewesen war - mit einem »Hab dich lieb. Ja, ich ruf später noch mal an, Schatz« abgewimmelt hatte, sah sie Maddie mit einem für sie ganz und gar untypischen und sehr aufrichtig wirkenden, besorgten Blick an. Aber Maddie kaufte ihn ihr nicht ab. Nicht nachdem sie wusste, wozu sie fähig war.
»Ich bin mir sicher, dass es Cordelia gut geht, Maddie. Sie ist doch auch in Kalifornien schon ein paarmal abgehauen, oder?«
Aufgebracht über ihren herablassenden Ton, entgegnete Maddie gereizt: »Sie ist einmal abgehauen. Ein einziges Mal! Und das war direkt nachdem ihr Vater starb.«
»Na ja.« Kate lächelte
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