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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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prunkte zwischen den neuen, grell gesprenkelten Sofakissen und nahm die Bewunderung unserer polnischen Besucher entgegen. Doch jetzt, nachdem ich gesehen hatte, wie die Lindners wohnten, fand ich an meinem Zimmer alles hässlich, fad und erbärmlich. Wenn ich mir vorstellte, Patrizia hierher einladen zu müssen, und dabei den blasierten Ausdruck ihres Gesichts vor mir sah, wurde meins ganz heiß vor Scham. Ich beneidete Patrizia dafür, dass sie im Tabernakel meiner wildesten Träume lebte. Meine Eifersucht war so quälend, dass ich mir wünschte, ein finsterer Kobold möge ihr in der Nacht die kastanienbraunen Locken absägen und das bombastische Barbie-Haus plündern. Sie hatte die Puppen mit ihren bunten, duftenden Haaren nicht verdient, schließlich war sie dafür nicht wie ich in ein anderes Land ausgewandert. Ich war wütend auf meine Eltern, weil sie keine adligen oder reichen Vorfahren hatten. Es war ungerecht, dass das Einzige, was der Familienstammbaum zu bieten hatte, eine Tante aus dem 19. Jahrhundert war, die ein unbestimmtes Vermögen beim Glücksspiel verludert haben soll.
    Warum war mein Fenster kein Erker mit parkartiger Aussicht, sondern nur ein staubiges Quadrat, vor dem auf halbmast eine Gardine mit einfältigem Muster hing? Warum konnten wir nicht an einem runden Tisch aus gemasertem Furnier frühstücken, warum hatten wir Teller statt dünner Holzbrettchen, warum zog Mama zehn verschiedene Wurstsorten einer reichen Auswahl an Frühstücksflocken und Marmeladen vor? Ich hätte sogar lieber Patrizias ausgefallene Allergien gehabt statt bloß Haltungsschäden, weil ich dauernd bedrückt meine Schultern zusammenzog.
    Wenn ich meine Mutter vorwurfsvoll fragte, warum wir in einer Sozialwohnung lebten, sagte sie: »In Polen haben wir ein Haus, aber du wolltest es nicht.« Als ich meinen Eltern ein Werbeblatt hinschob, das anbot, den gesamten Brockhaus auf Raten zu erwerben, sagte Mama: »In Polen haben wir auch eine Enzyklopädie und Hunderte von anderen Büchern.« In Polen hatten wir angeblich alles, und in Mamas Vorstellung haben wir es nie verloren. Ich konnte ihr durch nichts begreiflich machen, warum wir im Vergleich zu den Lindners nichts hatten und nichts waren.
    Eines Tages kam ich aus der Schule und fand auf meinem Schreibtisch einen an mich adressierten Brief, der hinten mit einem roten Wachsfleck versiegelt war. Ein Absender fehlte. Ich knibbelte aufgeregt den Umschlag auf und zog ein hellblaues, viermal gefaltetes Löschblatt heraus. Die Schrift war krakelig und tintenschwer.
    Hi Alex! (kan ich dich so nennen?? Ist ja ein Jungensname)
    Wie gets? Lange nicht geseen. Helga macht Entzuck im Kranckenhaus weil der Macka hat sich entlich fapisst. Ich wohn jetzt aleine bei meiner Omer. Die hat einen Hunt. Der Hunt heist Dehsie und ist ein Dackel. Ich pas auf ihn auf und wir gen öftas gassi. Ich hab 100 mark im Zeichnenwetbeverb gewonnen. Jetzt spar ich für ein gutes Fahrrat. Fileicht kann ich dich ja balt besuchen mit dem Fahrrat. Ich hab deine Adrese im Telefohnbuch gefunden. Jezt weis ich nicht mer was ich schreiben sol. Aber egal. Schreib zurück!
    Dominik
    Ich starrte auf das Löschblatt und die Sätze, die aussahen, als hätte sie ein kopfloses Huhn mit der Kralle geschrieben. Ich dachte an den Jungen, der mich am letzten Schultag mit ausgestreckter Hand hatte stehen lassen. Den ich längst aus meiner Erinnerung verbannt hatte. Dass er sich mit keiner Zeile für sein Verhalten entschuldigte, machte mich wütend. Es war mir nur recht, dass er vergessen hatte, die Adresse seiner Oma anzugeben. Mit ungehobelten Aufdenbodenspuckern wie ihm, die nicht den geringsten Anstand und keinen Sinn für das Schöne hatten, wollte ich sowieso nichts mehr zu tun haben.
    »Von wem war denn der Brief?«, fragte Mama mich beim Essen.
    »Von niemandem«, sagte ich abweisend, dann wurde ich rot und verließ eilig die Küche, um mich abzukühlen. Noch mehr als Dominiks verkrüppelte Sprache störte mich, dass es ihm nichts auszumachen schien, mich vor meinen Eltern zu beschämen. Wir wollten doch um keinen Preis ein Liebespaar sein, und sah ein Brief von einem Jungen an ein Mädchen nicht wie ein Gegenbeweis aus? Ich riss das beschmierte Löschblatt noch am selben Tag in Stücke und warf es in einen weit abgelegenen Müllcontainer.
    Meine regelmäßigen Klagen über unsere vermeintliche Minderwertigkeit gingen an meiner Mutter nicht spurlos vorüber. Vielleicht hing ihr Bewusstseinswandel aber auch mit den

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