Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
Schuld nur sind wir Schwächlinge . Okay, und was, bitte schön, hat das mit mir zu tun?«
Marian sah mich über ihre Brille hinweg an. »Ich bin nur die Bibliothekarin. Ich kann dir Bücher, aber keine Antworten geben.« Sie lächelte. »Die entscheidende Frage ist doch: Bist du Herr über dein Schicksal oder sind es die Sterne?«
»Sprichst du jetzt von Lena oder von Julius Caesar? Ich gebe es nur ungern zu, aber ich habe dieses Stück nie gelesen.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, in dem Bücherstapel zu stöbern und uns gegenseitig etwas vorzulesen. Und plötzlich wusste ich, weshalb ich hierhergekommen war. »Tante Marian, ich muss noch einmal ins Archiv gehen.«
»Heute? Hast du nicht Dinge zu erledigen? Geschenke kaufen und so weiter?«
»Ich kaufe nicht gerne ein.«
»Das ist sehr klug von dir.Was mich betrifft: Ich liebe Weihnachten. Auf eine plumpe Art und Weise erinnert es an Frieden und guten Willen unter den Menschen. Doch wird es plumper jedes Jahr .«
»Schon wieder Dickens?«
»E. M. Forster.«
Ich seufzte. »Ich kann’s nicht erklären. Ich glaube, ich muss meiner Mutter nahe sein.«
»Ich weiß. Mir fehlt sie auch.«
Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, was ich Marian erzählen würde, darüber, wie es mir ging, über die Stadt, und wie verkorkst alles war. Jetzt steckten dieWorte in meinem Hals, als hätte sie jemand dort festgetreten. »Ich dachte, wenn ich ihre Bücher um mich habe, wäre es vielleicht wieder so wie früher. Vielleicht könnte ich dann mit ihr sprechen. Einmal bin ich auf den Friedhof gegangen, aber dort hatte ich nicht das Gefühl, ihr nahe zu sein.« Ich starrte auf einen Fleck auf demTeppich.
»Ich weiß.«
»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass sie dort liegt. Das ist doch totaler Quatsch.Warum sollte man jemanden, den man liebt, in ein tiefes Loch stecken?Wo es kalt und schmutzig ist und voller Ungeziefer. Damit kann nicht alles zu Ende sein, nicht nach allem, was sie für uns gewesen ist.« Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass sie dort unten lag und zu einem Gerippe, zu Staub und Erde wurde. Ich hasste dieVorstellung, dass sie jetzt genauso alleine dort unten war wie ich hier oben.
»Was für ein Ende hättest du denn lieber?« Marian legte mir die Hand auf die Schulter.
»Keine Ahnung, vielleicht sollte ihr jemand ein Denkmal setzen oder so was Ähnliches.«
»So wie dem General? Darüber würde deine Mutter herzlich lachen.« Marian nahm mich in den Arm. »Ich weiß, was du sagen willst. Sie ist nicht dort. Sie ist hier.«
Sie streckte mir die Hand hin und ich zog Marian hoch. Erst als wir im Archiv waren, ließen wir uns los; ich kam mir wieder vor wie das Kind, auf das Marian aufpasste, während meine Mutter im Hinterzimmer arbeitete. Sie zog einen Schlüsselbund mit vielen Schlüsseln hervor und schloss die Tür auf. Aber sie folgte mir nicht hinein.
Ich ließ mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen. Der Stuhl meiner Mutter. Er war aus Holz und trug das Emblem der Duke University. Ich glaube, er war ein Geschenk der Universität, weil sie ihren Abschluss mit Auszeichnung bestanden hatte. Er war nicht sehr bequem, aber irgendwie tröstlich vertraut. Ich roch den alten Lack, denselben Lack, auf den ich wahrscheinlich als Baby gesabbert hatte, und sofort fühlte ich mich besser. Ich sog den Duft der in knisternde Plastikeinbände gehüllten Bücher ein, den Duft brüchigen Pergaments, den Staub der billigen Aktenschränke. Ich atmete die Luft dieser ganz eigenenWelt meiner Mutter ein. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder sieben Jahre alt, säße auf ihrem Schoß und vergrübe meinen Kopf an ihrer Schulter.
Ich wollte nach Hause. Ohne Lena wusste ich nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen.
Ich nahm ein kleines, gerahmtes Foto vom Schreibtisch meiner Mutter, das von den vielen Büchern fast erdrückt wurde. Es zeigte sie selbst und meinenVater, wie sie im Arbeitszimmer bei uns zu Hause saßen. Irgendjemand hatte es vor vielen Jahren in Schwarzweiß aufgenommen.Vermutlich war es für die R ückseite eines Buchumschlags bestimmt gewesen, für eines ihrer frühen Projekte, als meinVater noch Historiker gewesen war und sie zusammengearbeitet hatten. Es stammte aus einer Zeit, in der sie ulkige Frisuren und hässliche Hosen getragen hatten und man noch das Glück in ihren Gesichtern sehen konnte. Es fiel mir nicht leicht, das Bild anzuschauen, aber es war noch schwerer, es
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