Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
aber ich wollte sie nicht stellen. Ich wusste ja schon, dass sie allein durch ihre Gedanken ein Fenster zerspringen lassen konnte.Was sie sonst noch alles anstellen konnte, wollte ich gar nicht so genau wissen.
Aber egal. Langsam kam es mir so vor, als sprächen wir über eine der vielen verschrobenen Südstaatenfamilien, zum Beispiel über die Schwestern. Die Ravenwoods lebten in Gatlin genauso lange wie alle anderen Familien auch.Warum sollten sie weniger verrückt sein? Das versuchte ich mir jedenfalls einzureden.
Lena wertete mein Schweigen als schlechtes Zeichen. »Ich weiß, ich hätte gar nicht erst davon anfangen sollen. Ich habe dir gesagt, du sollst mich in R uhe lassen. Jetzt denkst du wahrscheinlich, dass ich völlig durchgeknallt bin.«
»Ich denke, dass du besondere Fähigkeiten hast.«
»Du glaubst, bei mir zu Hause geht es nicht mit rechten Dingen zu. Das hast du selbst gesagt.«
»Ihr dekoriert eben gerne um.« Ich war entschlossen, die Sache locker zu nehmen. Ich wollte, dass sie wieder lächelte. Ich wusste, welche Überwindung es sie gekostet haben musste, mir dieWahrheit zu sagen. Ich konnte sie jetzt nicht im Stich lassen.
Ich drehte mich um und zeigte auf das Fenster über den Azaleenbüschen, hinter dessen dicken, verschlossenen Holzläden das Licht brannte. »Siehst du das Fenster dort? Das ist das Arbeitszimmer meinesVaters. Er arbeitet die Nacht durch und amTag schläft er. Seit demTod meiner Mutter hat er das Haus nicht mehr verlassen. Er zeigt mir nicht einmal, was er schreibt.«
»Das ist so romantisch«, sagte sie leise.
»Nein, das ist verrückt. Aber niemand verliert einWort darüber, denn es ist niemand mehr da, mit dem man reden könnte. Nur noch Amma, die Zauberamulette in meinem Zimmer versteckt und aufschreit, wenn ich alten Schmuck mit nach Hause bringe.«
Ich spürte, dass sie fast lächelte. »Vielleicht bist du irre.«
»Ich bin irre, du bist irre. In deinem Haus verschwinden Zimmer, in meinem Haus verschwinden Menschen. Dein Onkel ist bekloppt, meinVater ist geistesgestört. Ich weiß nicht, wie du auf den Gedanken kommst, dass wir so verschieden sind.«
Lena verzog leicht das Gesicht. »Ich gebe mir Mühe, das als Kompliment aufzufassen.«
»Das ist es auch.« Ich betrachtete sie, wie sie da im Mondlicht saß und lächelte – jetzt war es ein richtiges Lächeln. Es lag etwas in ihrem Blick in diesem Moment. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich mich ein wenig weiter nach vorn beugte und sie küsste …
Ich rutschte weg, setzte mich eineTreppenstufe höher als sie.
»Geht’s dir gut?«
»Ja. Bestens. Nur müde.« Aber das stimmte nicht.
So blieben wir ein paar Stunden lang draußen auf derTreppe sitzen und redeten einfach. Wir sahen in den schwarzen Nachthimmel, dann in den dunklen Morgenhimmel, bis wir die ersten Vögel singen hörten.
Als der Leichenwagen schließlich wegfuhr, fing die Sonne gerade an aufzugehen. Ich sah Boo Radley, der langsam hinter demWagen her trottete. So gemächlich wie er lief, würde die Sonne schon wieder untergehen, ehe der Hund zu Hause war. Manchmal fragte ich mich, weshalb er überhaupt so unermüdlich hinter ihr her lief.
Dummer Hund.
Ich legte die Hand auf die Messingklinke unserer Tür, aber ich brachte es fast nicht über mich, sie zu öffnen. MeineWelt war auf den Kopf gestellt, und im Haus gab es nichts, was das hätte ändern können. Meine Gedanken waren durcheinandergerührt worden wie Eier in Ammas großer Pfanne, und das schon seitTagen.
F.U.R.C.H.T.S.A.M. So würde mich Amma jetzt nennen. Neun waagrecht, ein anderesWort für feige. Ich hatte Angst. Ich hatte Lena gesagt, es sei doch nichts Besonderes, dass sie und ihre Familie – was waren sie eigentlich? Hexen? Zauberer? Jedenfalls nicht die Art von Magier, von denen mir mein Daddy erzählt hatte.
Und wenn schon, im Grunde war das ja nichts Besonderes.
Ich war ein Riesenlügner. Ich wette, sogar der dumme Hund hatte das bemerkt.
Die letzten drei Reihen
24.9.
Es gibt doch diese R edensart, etwas trifft einen »wie die Faust im Magen«? Besser kann man’s nicht beschreiben.Von dem Augenblick an, als Lena mitten in der Nacht in ihrem Schlafanzug vor unserem Haus auftauchte und schließlich stundenlang auf denVerandastufen saß, kam es mir so vor, als hätte mich eine Faust in den Magen getroffen.
Ich hatte es geahnt, ich hatte nur nicht gewusst, wie überwältigend es sein würde.
Seitdem gab es nur zwei Orte, wo ich sein wollte: Entweder dort, wo
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