Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
verhaftet. Eine so gespaltene „Revolution“ – im Grunde ein Bündel heterogener Aufstände zur gleichen Zeit, doch mit unvereinbaren Zielen – konnte auf Dauer kaum erfolgreich sein. Wie schwach die Monarchie inzwischen war, zeigte sich daran, dass Ferdinand die Niederwerfung der Opposition aus eigener Kraft nicht gelang; sie blieb einer österreichischen Armee überlassen, die in Sizilien kaum Widerstand fand, dafür in der Folgezeit jedoch hohe, von den Einheimischen aufzubringende Stationierungskosten verursachte.
Wie konnte eine Monarchie – im einhelligen Urteil Europas längst die rückständigste, korrupteste und anstößigste von allen – überleben, die sich zunehmend dem eigenen Adel entfremdet hatte? Einem traditionellen Herrschaftssystem – so räsonierten Ferdinands Berater nicht ohne Grund – blieb nur der Rückgriff auf bewährte Rezepte der Vergangenheit. Stellte sich die Elite quer, so musste man umso mehr die Unterstützung der kleinen Leute suchen. Für diese war der uralte Basispakt Gehorsam gegen Überlebenssicherung und Freiräume vom Staat selbstverständlich weiterhin in Kraft – ungeachtet aller neumodischen Theorien aufgeklärter Ökonomen von der allein seligmachenden Kraft des freien Marktes. Korn diente zur Existenzsicherung der Armen, nicht dem Luxus der Reichen. Und ein guter König war weiterhin ein König ohne Steuern. Als solcher ging Ferdinand in die volkstümliche Erinnerung ein, als er 1824, ein |173| Jahr vor seinem Tod, einige besonders unpopuläre Abgaben abschaffte. Zu dieser Verklärung trug ferner bei, dass die in der Reformzeit eingeführte Zwangseinziehung zum Militär rückgängig gemacht wurde. Auch die Aufhebung der
maestranze
fand den Beifall der Besitzlosen, ebenso der Versuch, zumindest einen Teil des Grund und Bodens von oben nach unten umzuverteilen. Allerdings fielen dessen Resultate wie schon so oft kontraproduktiv aus. Nutznießer dieser Maßnahmen waren erneut nicht die Tagelöhner, sondern die ohnehin schon begüterten ländlichen Honoratioren.
Diese von unten geforderte Absenz des Staates hatte zur Folge, dass Recht und Gesetz sowie die Bestrafung von deren Überschreitungen zum großen Teil Privatsache, das heißt die Aufgabe von einflussreichen Persönlichkeiten und Familien blieben. Der dabei angelegte Maßstab war weiterhin die Ehre. Ihrer Reinwaschung diente die Blutrache bzw. auf der Ebene der Gemeinde der erbarmungslose Krieg um Nutzungsrechte und Privilegien. So weit, so legitim in den Augen aller Schichten. Doch so einfach waren die Verhältnisse nach den wirren Zeiten unter wechselnden Regimen jetzt nicht mehr. Die Banden der Gesetzlosen, die so lange im Dienste verfeindeter Feudalfamilien gestanden hatten, verselbständigten sich zunehmend und kehrten sich durch Erpressung von Schutzgeldern nicht selten gegen ihre ehemaligen Auftraggeber. Dem Respekt, den sie in weiten Kreisen und vor allem bei den kleinen Leuten genossen, tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Den Reichen nehmen und den Armen geben, das wäre eigentlich die Aufgabe der Mächtigen gewesen. Und im Gegensatz zum Staat, der eine Privatangelegenheit der Eliten blieb, konnte man in diesen Gefolgschaftsverbänden durch Loyalität gegenüber dem Anführer weit emporkommen. Auf diese Weise bildeten sich erste, noch locker organisierte „Paralleluniversen“ heraus, deren Verhältnis zur offiziellen Macht keineswegs immer feindlich sein musste; bei Bedarf konnten sich auch die Herrschenden dieser Frühformen der Mafia für ihre Zwecke, etwa bei der Unterdrückung von Aufständen, bedienen.
Die Nachfolger Ferdinands, Franz I. (1825 –1830) und Ferdinand II. (1830 – 1859, die Zählung begann mit dem „Königreich beider Sizilien“ wieder von vorn), taten wenig genug, um der Auflösung der ohnehin schon minimalen Ordnung in Sizilien ernsthaft entgegenzuwirken. Die wirtschaftlichen Innovationen dieser Zeit gingen auf private Initiativen zurück, so die ersten Gründungen von Metall verarbeitenden Fabriken und andere Formen der Frühindustrialisierung. Wichtigste Einnahmequelle der Insel überhaupt wurde in den 1830er Jahren der Abbau von Schwefel bei Agrigent und Caltanisseta, der nach ganz Europa und in die USA verschifft wurde. Allerdings blieben die Produktionsmethoden hier und |174| in anderen Sektoren häufig vorsintflutlich. Es fehlte an Straßen, Hafeneinrichtungen und nicht zuletzt an Kapital, da es keine funktionstüchtigen Banken gab. Und anstatt selbst
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