Skalpell Nr. 5
meinte es wirklich ernst. Sie war doch hungrig gewesen.
Rose machte den Abwasch, während Manny versuchte, sich auf die Sachen zu konzentrieren, die Kenneth ihr gefaxt hatte. Unmöglich. Immer wieder drängte sich die Erinnerung an die Messerattacke in ihren Kopf. Gott sei Dank war es nur eine Warnung gewesen, keine Hinrichtung. Nächstes Mal …! Sie griff nach der neusten Ausgabe der Vogue. Mode war das Einzige, was sie von ihrer Angst ablenken konnte.
Um elf waren ihre Mutter und Mycroft mit Kenneth zurück nach New Jersey gefahren, und Manny hatte die Nachrichten eingeschaltet. In Bagdad hatte ein Selbstmordattentäter siebzehn irakische Soldaten einer Spezialeinheit getötet und zweiundvierzig verletzt.
»Auf der New Yorker Upper East Side ist heute Abend eine Bombe explodiert«, verkündete der Nachrichtensprecher. »Unser Reporter Tim Minton ist vor Ort. Tim?«
»Vor kaum einer Stunde hat eine Explosion das Haus von Dr. Jacob Rosen erschüttert. Dr. Rosen ist ein New Yorker Gerichtsmediziner –«
Ein Schmerz, der stechender war als der ihrer Wunde, jagte Manny durch den Körper. Nein! Bitte nicht!
Auf dem Bildschirm sah Manny Jakes Haus und eine Ansammlung von Feuerwehr- und Polizeifahrzeugen davor.
»Noch immer können die Feuerwehrleute nicht ins Erdgeschoss vordringen«, erzählte Minton weiter, »daher herrscht Ungewissheit, ob sich Dr. Rosen zum Zeitpunkt der Explosion im Haus aufhielt. Laut Feuerwehrchef Nicholas Gould, der auch persönlich mit Dr. Rosen befreundet ist, könnte eine defekte Gasleitung die Ursache gewesen sein, aber er hat ausdrücklich betont, dass man bislang nur Spekulationen anstellen kann. Dr. Rosen hat erst kürzlich im Prozess des Mafiakillers Freddy ›Big Ears‹ Francesca ausgesagt, aber es ist noch viel zu früh, um Vermutungen über einen Zusammenhang –«
Manny stand auf, verzog vor Schmerz das Gesicht, schnappte sich ihre Schlüssel und humpelte so schnell sie konnte aus der Wohnung.
20
M
anchmal ist der Versuch, in New York ein Taxi zu ergattern, ebenso fruchtlos wie die Suche nach Wasser in der Wüste, dachte Manny. Nicht mal ihr Portier konnte da ein Wunder vollbringen. Jedes Taxi war besetzt. Bitte, bitte, bitte! Bitte, Taxi, komm!
Endlich hielt eines an. Manny stieg ein. »Ich hab’s sehr eilig, Sir«, sagte sie knapp.
»Wer nicht?«
»Bei einem Freund von mir ist heute Abend eine Bombe hochgegangen –« Sie brachte die Worte kaum heraus.
Das Interesse des Fahrers war geweckt, und er drehte sich zu ihr um. »Auf der Upper East Side?«
»Ja.«
»Kam gerade im Radio.«
»Dann beeilen Sie sich bitte!«
»Halten Sie sich fest.«
Sie brausten über den FDR Drive in Richtung Norden. Manny sank im Sitz zurück und dachte an Jake. Bitte, Gott, lass ihn nicht tot sein – ich nehme alles zurück, was ich über ihn gesagt habe. Bitte, Gott, mach, dass er nicht tot ist!
»Mit Gott handelt man nicht«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Aber genau das tat sie jetzt: Sie handelte mit ihm – flehte ihn an –, und eventuelle Gegenforderungen waren ihr völlig egal, Hauptsache, er erfüllte ihren Wunsch.
In Höhe der 96th Street verließ der Taxifahrer den FDR Drive, fuhr die First Avenue hinauf und hielt an der Ecke der 103rd Street. »Weiter komm ich nicht, Lady. Die Straße ist gesperrt.«
Sie warf ihm einen Zwanzigdollarschein hin, sprang aus dem Taxi und drängte sich, ohne auf den Schmerz in ihrem Bein zu achten, durch ein Meer von Schaulustigen, die sich nicht weit von Jakes Haus versammelt hatten. Der eigentliche Ort des Geschehens war mit gelbem Polizeiband abgesperrt, und uniformierte Polizisten hatten einen Kordon gebildet, um niemanden durchzulassen. Dahinter sah Manny Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr und Polizei, den Bürgermeister, den Polizeichef und – einen Krankenwagen. Wild blitzendes Blaulicht und Sirenengeheul erzeugten eine gespenstische Szenerie.
Die Fassade von Jakes Haus war beschädigt und die Vorderfenster geborsten. Jakes Dienstwagen, der direkt vor dem Haus stand, war auf der Fahrerseite zerfetzt. »Lassen Sie mich durch!«, schrie Manny. Neben dem Krankenwagen sah sie eine Trage, auf der jemand lag. Ein Toter? Mit einem Aufschrei duckte sie sich unter dem Polizeiband hindurch. Ein Polizist hielt sie am Arm fest. »Sie können hier nicht durch, Ma’am.«
»Ich muss aber!«
»Das ist ein Tatort. Wir dürfen niemanden durchlassen.«
»Ich bin seine Frau!«
Sie riss sich los und lief zu der Trage. Der Mann darauf war voller
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