Skalpell Nr. 5
verriet, dass ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.
»Keine Sorge«, sagte Cassandra. »Wenn ich es Ihnen nicht erzählen wollte, würde ich es nicht tun. Ein Psychiater in der Klinik – einer von den wenigen gütigen Menschen dort – hat mal gesagt, dass man sich seelischem Schmerz stellen muss, um ihn zu überwinden.« Sie lächelte schwach. »Vielleicht ist es ja doch noch nicht zu spät dafür.« Sie stand auf, ging zur Tür, die in den Garten führte, und blieb dort mit dem Rücken zu ihnen stehen. Als sie sprach, war ihre Stimme fest und klar.
»Als Dad mich in die Klinik einwies, war ich achtzehn. Damals wurde man erst mit einundzwanzig volljährig, also konnte ich mich nicht dagegen wehren. Es war die Hölle. Die Arzte und Psychiater waren überwiegend alte Männer, für die wir Patienten bloß Material waren, der Ton, den sie nach ihren Vorstellungen formen konnten. Auch die Insassen waren überwiegend alt und die meisten wirklich geisteskrank. Aber der vielleicht verrückteste von ihnen war noch recht jung. Er hatte im Koreakrieg gekämpft und hielt uns alle – Arzte, Pflegerinnen und Patienten – für Feinde.
Er musste oft in eine Zwangsjacke gesteckt werden, und wenn er dann wieder losgebunden wurde, explodierte er förmlich. Und seine Schreie in der Nacht – grauenhaft.«
»James Lyons«, sagte Jake.
Sie sah ihn erstaunt an. »Stimmt. Ich hatte seinen Namen vergessen. Vom Alter her war er einer der wenigen, mit denen ich hätte reden können, aber man hielt mich von ihm fern. Die wollten nicht, dass der Tochter ihres Gönners irgendwas passierte.
Mein Gott, ich war so einsam. Hier bin ich jetzt manchmal auch einsam, aber ich habe meinen Garten, und ich kann mich frei bewegen. Wenn ich Schreie höre, sind das die Vögel draußen, das Heulen ist der Wind. Es ist eine angenehme Einsamkeit. Niemand kommt mir zu nahe.«
»Und Sie haben Ms. Crespy«, sagte Manny bemüht heiter.
»Ja. Ihr kann ich vertrauen. In der Klinik hatte ich jedes Vertrauen verloren. Die ersten sechs Monate dort waren so schrecklich, dass ich mir fast gewünscht hätte, verrückt zu sein. Bei vollem Verstand an so einem Ort eingesperrt zu sein ist eine schlimmere Folter als mittelalterliche Daumenschrauben.«
Sie rang um Fassung, fand sie wieder. »Isabella war meine Rettung. Sie wurde im Sommer eingewiesen – sie war in meinem Alter und geistig gesund, genau wie ich. Ihre Eltern hatten sie in die Klinik gesteckt, so wie mein Vater mich, aber aus einem anderen Grund; sie hatten kein Geld, sie bei sich zu behalten, und meinten, eine psychiatrische Klinik wäre immer noch besser als die einzige andere Möglichkeit – eine Besserungsanstalt für schwer erziehbare Mädchen.
Isabella weinte wochenlang, zum einen, weil sie sich von ihren Eltern abgeschoben fühlte, zum anderen, weil sie rasende Zahnschmerzen hatte. Letzteres ließ sich leicht beheben; ihre Zähne wurden plombiert, und die Schmerzen hörten auf. Wir wurden gemeinsam in einem Zimmer untergebracht und freundeten uns sofort an. Bald konnten wir sogar wieder lachen.«
Ihre Miene verdunkelte sich. »Sie lernte einen von den neuen Ärzten kennen. Er war jung, wahrscheinlich keine zehn Jahre älter als sie. Er war nett zu ihr; er sorgte dafür, dass ihre Zähne behandelt wurden. Und schon bald verliebten sich die beiden.«
Manny sah, wie das Blut aus Jakes Gesicht wich. Er saß gebannt da und wippte nervös mit dem rechten Bein. »Erzählen Sie weiter«, sagte er tonlos.
»Ich freute mich für Isabella, war aber auch neidisch. Ich sah, wie verliebt die beiden waren, und hätte mir das auch für mich gewünscht – das ist mir versagt geblieben, verstehen Sie. Sie war überglücklich, als sie merkte, dass sie schwanger war. Sie wollte das Baby Joseph nennen, falls es ein Junge würde, und so nannte sie es immer: Joseph.«
»Wie hieß der Arzt?«, fragte Manny, obwohl sie glaubte, die Antwort zu kennen. Jake schien unfähig, ein Wort zu sagen. »Wissen Sie das noch?«
»Selbstverständlich weiß ich das noch. Er war ein attraktiver Mann, der einzige Arzt in Turner, der auch mal lachen konnte. Dr. Peter Harrigan. Lebt er noch?«
»Er ist tot«, brachte Jake heraus.
»Oh. Das tut mir leid.« In ihrer Stimme lag Mitgefühl. »Kurz nachdem Isabella mir erzählt hatte, dass sie schwanger war, starb mein Vater. Er hinterließ der Klinik Geld, aber nicht für meinen Unterhalt, und so wurde ich entlassen, Gott sei Dank. In der ersten Zeit danach besuchte ich
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