Skalpell Nr. 5
renovierungsbedürftig war.
Cassandra war eine zierliche Frau mit vollem weißem Haar, das ihr bis zu den Schultern ging, und der Muskulatur einer Turnerin, wie Jake bemerkte. Sie hatte helle Augen, ihre Haut war rötlich und wettergegerbt, und die Hände, die aus den Ärmeln des hellgrünen dicken Rollkragenpullovers ragten, sahen aus wie die einer jungen Frau.
»Wir haben gerade schon bei Ms. Crespy Kaffee getrunken«, sagte Manny, »und wir möchten Ihre Zeit nicht allzu sehr beanspruchen.« Wenn die verrückt ist, fress ich ’nen Besen.
»Ich hab alle Zeit der Welt. Möchten Sie sich den Garten anschauen?«
Es blieb ihnen anscheinend nichts anderes übrig. Sie würden Geduld haben müssen, wenn sie sie zum Reden bringen wollten.
Cassandra führte sie durch ein Wohnzimmer, das aussah, als stammte es geradewegs aus einem englischen Herrenhaus. Über dem Kamin hing das große Porträt eines Mannes – ihr Vater? –, und ein Kronleuchter verbreitete strahlendes Licht. Die Ledersessel waren verkratzt, aber ansonsten gut erhalten; der Orientteppich – ein echter – hatte nichts von seiner Farbenpracht verloren. Ein zerschlissenes Sofa, ein ramponierter Couchtisch und löchrige Schirme über eleganten chinesischen Lampen waren die einzigen Spuren, die vom Vergehen der Zeit kündeten.
»Das Haus war mal eine richtige Sehenswürdigkeit«, erklärte Cassandra. »Ich versuche, es in Schuss zu halten, so gut ich kann, aber am meisten arbeite ich im Garten. Da bin ich am glücklichsten. Allerdings werden Sie sehen, dass die Natur im Kampf mit einer alleinstehenden Frau immer Siegerin bleibt.« Sie traten durch die Hintertür ins Freie, wo sie Eichen, Glyzinien und Rosenbüsche, Geranien und Impatiens sahen. Aber überall dazwischen wucherte Unkraut, und das Dach einer Laube in der Mitte war halb eingefallen.
Cassandra las Mannys Blick. »Zerstörung hat nichts Schönes an sich. So etwas glauben nur Sadisten wie mein Vater.«
»Ms. Crespy hat uns ein wenig über ihn erzählt – und über Ihre Geschichte«, sagte Manny. »Sie hatten ein hartes Leben.«
»Er war ein harter Mensch. Ich vermute, Marge hat Ihnen erzählt, dass er mich in eine psychiatrische Klinik gesteckt hat?«
»Ja. Das muss furchtbar für Sie gewesen sein.«
»Und darüber wollten wir auch mit Ihnen sprechen«, sagte Jake. »Was ging da vor sich, während Sie in der Klinik waren?«
Sie fuhr zurück, als hätte er sie geschlagen. »Nein, Sir. Darüber will ich nicht reden.«
»Wir glauben, dass dort Verbrechen begangen wurden. Verbrechen, die sogar bis in die Gegenwart hineinreichen.«
»Ja, Verbrechen«, murmelte sie. »Ich will nicht mehr darüber nachdenken.« Sie winkte ab. »Bitte gehen Sie.«
»Aber Sie sind die Einzige, die uns sagen kann, was –«
»Gehen Sie!« Sie wollte ins Haus zurückeilen.
»Isabella. Isabella de la Schallier«, rief Manny ihr nach.
Cassandra blieb stehen, drehte sich um. »Was haben Sie gesagt?«
»Isabella de la Schallier. Sie war zur selben Zeit in der Klinik wie Sie.«
»Wir haben ihr Skelett gefunden«, sagte Jake. »Sie müssen uns helfen herauszufinden, was ihr zugestoßen ist.«
Sie kam zurück, die Arme ausgestreckt wie eine Schlafwandlerin, das Gesicht vor Trauer verzerrt. »Sie haben ihr Skelett gefunden?«
»Es war in dem Feld hinter der Klinik verscharrt.«
Cassandras Stimme war kaum mehr ein Flüstern.
»Waren dort noch andere begraben?«
»Ja. Drei Männer.«
»Nur Erwachsene?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut.«
»Isabella und drei Männer. Sonst niemand?«
»Ja. Warum fragen Sie?«
Cassandra sah zu Boden, wich ihren Blicken aus. »Isabella –«, setzte sie an, verstummte dann, weil ihr die Stimme versagte. »Wissen Sie, Isabella … Da war ein Kind …« Sie starrte blicklos in eine verlorene Vergangenheit. »Wo ist Joseph? Wo sind die sterblichen Überreste ihres Kindes?«
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Cassandra machte Tee und setzte sich dann zu ihnen, die Augen niedergeschlagen, als hätte sie selbst eine Sünde begangen. Manny und Jake saßen ihr gegenüber auf dem Sofa, und beide spürten, dass es klüger war, sie nicht zu bedrängen.
Endlich seufzte Cassandra, und in diesem Seufzen lag so viel Traurigkeit, dass Manny den Impuls bezwingen musste, einfach aufzustehen und zu gehen, um die arme Frau nicht weiter zu quälen. Wir muten ihr Schreckliches zu, dachte sie, lassen sie noch einmal die Zeit in der Klinik durchleben. Das ist zu grausam. Jakes Miene
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