Skandal um Lady Amelie
…
Das Haus in Richmond in der Paradise Road Nr. 18, das Caterina so lobte, hatte sich, seit es vor dreihundert Jahren als etwas größeres Cottage erbaut worden war, durch Um-und Anbauten zu einem veritablen Herrenhaus entwickelt, und Amelie hatte, nachdem sie es erworben hatte, diverse ihr genehme Änderungen vornehmen und die Wohnräume nach ihrem Geschmack renovieren lassen. Der dazugehörige Grund und Boden war weitläufiger, als der erste Blick vermuten ließ, und beherbergte nicht nur Zier-und Gemüsegärten, sondern auch ein Gewächshaus, Stallungen und Unterkünfte für die Dienerschaft.
Ihr Besitz in Derbyshire, außerhalb der Stadt gelegen, war größer als dieses Haus und hatte eher den Charakter eines Landsitzes, mit eigener Landwirtschaft und entsprechend vielen Bediensteten, wie es Sir Josiahs Stellung verlangte. Er hatte Amelie kaum je einen Wunsch verweigert, als Ausgleich, wie sie beide wussten, für das, was er ihr nicht geben konnte.
Bei ihrem Umzug nach Richmond ihre Nichte zu sich zu nehmen, hatte sie einige Überlegung gekostet, da es unvorhergesehene Verantwortung bedeutete, doch bisher reute es sie nicht, denn es brachte auch viel Ablenkung. Caterina war ein hübsches, anmutiges Mädchen, wohlerzogen, intelligent und rasch in der Auffassung der verschiedenen Fertigkeiten, die eine junge Dame beherrschen musste. Schon trug auch der Besuch der Abendgesellschaft Früchte; beim morgendlichen Ausritt im Park wurden ihnen Grüße entgegengebracht, und mehrere junge Herren wetteiferten um die Gunst Caterinas.
Als Amelie von ihrem Ausritt zurückkehrte, sah sie missmutig, dass Lord Elyots prächtiger Hengst vor den Ställen auf und ab geführt wurde. Sie eilte ins Haus, wo sie auf dem Marmortisch in der Halle Hut, Handschuhe und Reitgerte entdeckte. Henry verkündete, Lord Elyot warte auf sie und sei sicher, sie werde ihn gern empfangen.
Einen bissigen Kommentar unterdrückend, fragte sie: „Wo ist er?“
„Im Kleinen Salon, Mylady.“
Sie wusste, weswegen er gekommen war, und hätte einiges dafür gegeben, dieser Unterhandlung auszuweichen, die sicher nicht friedlich verlaufen würde. Als sie ins Zimmer trat, erwartete sie halb, ihren Besucher vor dem Kamin vorzufinden, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. In dieser Haltung hatte früher oft Josiah ihre Heimkehr erwartet. Lord Elyot jedoch saß beim Fenster und blätterte raschelnd in einer Zeitung, sodass er Amelies leise Schritte nicht hörte.
Als sie eintrat, erblickte sie ihr Bild in dem ovalen Spiegel über dem Kaminsims; wie ein Kupferdruck aus einem Modejournal wirkte ihre schlanke Gestalt in dem violetten Kleid mit der hohen Taille; Spitzen rieselten um ihren Halsausschnitt, alles war perfekt – nur ihre braunen Locken waren windzerzaust. Nun, sie wollte niemanden beeindrucken! Entschieden drückte sie die Tür mit lautem Geräusch ins Schloss. Er ließ die Zeitung fallen und sah sich überrascht um.
„Ah, Lady Chester, ich bitte um Verzeihung.“ Er legte die zerknitterten Blätter auf ein Tischchen, stand auf und vollführte eine elegante Verbeugung.
„Sie warteten so lange auf mich, nur um Verzeihung zu erbitten? Nun, die will ich gewähren, unter der Bedingung, dass Sie es nie wieder tun. Was sicher angesichts der besonderen Umstände gewährleistet ist, nicht wahr?“
Er lächelte bewundernd. „Im Gegenteil, Madam. Übrigens missverstehen Sie mich. Ich entschuldige mich nie für einen Kuss. Es ist so scheinheilig.“
Ohne darauf einzugehen, nahm Amelie mit spitzen Fingern die Zeitung auf und trug sie ostentativ zur Tür, vor der sie sie draußen ablegte. „Dann hätten Sie …“, sagte sie, sich auf das zierliche Sofa setzend, „… nicht auf mich zu warten brauchen.“ Gespielt kühl wies sie mit lässiger Geste auf den nächsten Stuhl. „Nun, wenn es Ihnen nicht um eine Entschuldigung zu tun ist, warum sind Sie dann gekommen?“
„Eingedenk der Tatsache, dass Sie nie daheim sind, wenn ich vorspreche – selbst wenn Sie daheim sind –, hielt ich es für klüger, vor Ihnen einzutreffen, um die Chance zu vergrößern, dass wir einmal beide gleichzeitig hier sind.“
„Ah, von solcher Bedeutung zu sein …“, seufzte sie. „Und nun könnten Sie vielleicht zur Sache kommen?“
Lord Elyot zog ein samtenes Retikül aus seiner Rocktasche und streckte es ihr hin. „Das gehört Ihnen, glaube ich. Oder einer gewissen Ginny Hodge?“
Amelies Herz klopfte plötzlich wie wild. Stirnrunzelnd nahm sie den
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