Skandal um Lady Amelie
Keine der Damen sprach, nur Hannah äußerte in dem verzweifelten Versuch, zu tun, als sei nichts geschehen, ein paar Worte über ein hier und da über die Wiese fliehendes Wildrudel, verstummte dann aber erschrocken, als sie Tamworths gewahr wurde, der, ein Auge verschwollen, das Krawattentuch aufgelöst, mit verschmutztem Rock und zerrauftem Haar düster auf seinem Pferd hockte.
Da eine Erklärung für den Vorfall noch ausstand, war Amelie unsicher, ob sie billigen konnte, wie mit dem jungen Mann umgegangen worden war. Sie tadelte sich, weil sie, die sie im Grunde die Verantwortung trug und am Tag zuvor noch gewarnt worden war, ihre Nichte nicht sorgfältiger im Auge behalten hatte. Hanna ihrerseits war entsetzt, dass ausgerechnet ihr angebeteter Held ihren Bruder derart zugerichtet hatte, und Caterina fühlte sich verstört wegen der heftigen Reaktion Lord Setons. Ihnen allen war natürlich äußerst unangenehm gewesen, im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit zu stehen.
Auch als die Brüder sich von Amelie und Caterina in der Paradise Road verabschiedeten, äußerten sie sich nicht, sondern eilten davon, um Tamworths Vater zu unterrichten, ehe der junge Mann seine eigene Version des Vorfalls verbreiten konnte.
Lord Elyot hatte nur kurz sein Bedauern ausgedrückt, dass der Ausflug so unangenehm ausgegangen war, für die Begleitung der beiden Damen gedankt und gemeint, Miss Chester sei hoffentlich nicht zu betrübt über das Geschehene.
Miss Chester war jedoch sehr betrübt, wenn auch aus anderen Gründen, als Lord Elyot vermutete. Sie hockte auf dem Klavierschemel, ihr feuchtes Taschentuch in einer Hand zusammengeknüllt, mit der anderen wischte sie sich die Tränen aus den Augen und schluchzte: „Ich dachte doch, er wollte mir diese Leute fernhalten. Weißt du, so eine Gruppe älterer Herrschaften, die sich sehr breitmachten. Er schob mich von ihnen fort gegen die Hecke.“
„Indem er seine Arme um dich legte“, sagte Amelie trocken.
„Ja, aber es war doch so wenig Platz, wir wären sonst nicht vorbeigekommen. Ach, wahrscheinlich hielt er mich ein bisschen länger fest. Wie albern das ist, Tante Amelie! Er meinte es sicher nicht so.“
„Aber du hättest gar nicht mit ihm allein sein sollen, Liebes. Er hätte dich nicht …“
„Ich bin schon so oft mit ihm allein gewesen, das weißt du, Tante Amelie. Sein Betragen gab mir nie Anlass zur Beunruhigung, sonst hätte ich ihn bestimmt nicht mehr als Freund betrachtet.“
„Also hat er nie versucht, dich zu küssen?“
„Glaubst du, das hat Lord Seton angenommen? Ja, vermutlich, Lord Seton hat die ganze Zeit dreingeschaut, als wartete er nur auf eine Gelegenheit, Tam zu schlagen.“
„Hat Tam nun versucht, dich zu küssen?“
„Ich weiß es nicht. Also, sein Gesicht war schon recht nah, vielleicht sah es wirklich so aus. Na ja, er flirtet eben. Wer nimmt das schon ernst? Ich jedenfalls nicht! Ach, wenn doch nur nicht ausgerechnet die beiden sich eingemischt hätten. Dabei bestand gar kein Grund dazu, meine ich.“
„Sie kennen Tam besser als du, Liebes. Wir müssen ihrem Urteil vertrauen. Lord Seton flirtet wohl nicht mit dir?“
„Nein“, sagte Caterina düster. „Aber er hat sich ja schon einmal über Tam verärgert gezeigt. Nun wird er auch mit mir noch böser sein als zuvor, denn sicher denkt er, ich hätte Tam ermutigt, was ich ganz bestimmt nicht tat. Wie konnte ich denn zu Tam unfreundlich sein, nachdem er sich so um uns bemühte? Außerdem wäre ich so gern als Erste in der Mitte des Irrgartens angekommen, und Tam hatte mir einen todsicheren Trick verraten, wie das funktioniert.“ Hier wurde ihr erneut bewusst, welche Schande der junge Mann erlitten hatte. Reuig warf sie sich vor, dass sie irgendwie dafür verantwortlich sei, und lehnte sich aufweinend an die Schulter ihrer Tante.
Enttäuscht, zornig und von Gewissensbissen geplagt, wie Amelie war, konnte sie nur wenig Mitgefühl für ihre Nichte aufbringen. Caterinas Version klang glaubwürdig, auch hatte sie sich stets als wahrheitsliebend erwiesen, denn wenn sie auch ein Unschuldslämmchen war, wäre sie doch nicht naiv genug, sich von Tam Ungehörigkeiten gefallen zu lassen, ohne sich zu beschweren.
Trotz Lord Elyots Warnung konnte Amelie nicht umhin zu überlegen, ob die Brüder nicht doch die Gelegenheit genutzt hatten, Tam Disziplin zu lehren.
Für Caterina fielen die Gesangsübungen heute jedenfalls aus.
Als am nächsten Morgen eine kurze Nachricht von Lord Elyot
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