Skandal um Lady Amelie
Sie ja reichlich. Vater würde ihm nie erlauben, unter seinem Niveau zu heiraten. Bei einer Geliebten macht es nichts, die ist sozusagen zum Üben da, aber wenn es um die Ehe geht … Selbst Mutter stammt aus guter Familie, sonst hätte Vater sie nicht geheiratet. So ist es nun mal.“
„Und was ist mit Admiral Nelsons Gemahlin, die er wegen einer Frau niederen Standes verlassen hat? Die Viscountess lebt in Ihrer Nähe, nicht wahr?“
„Ja, die Ärmste. Sie tut mir so leid! Abgelegt wegen eines ziemlich gewöhnlichen Frauenzimmers. Wussten Sie, dass diese Hamilton dem Admiral Zwillinge geboren hat? Stellen Sie sich vor, eines der Kinder haben sie in ein Londoner Findelhaus gegeben – zwei Kinder kann sie angeblich nicht aufziehen! Ja, ich lüge nicht, Amelie!“
Amelie musste sich zusammennehmen, um ihre Gefühle nicht zu deutlich zu zeigen. Wenn sie eine Erinnerung gebraucht hätte, so wurde sie ihr hier präsentiert: dass nicht nur Niedriggeborene, sondern selbst die Ranghöchsten auf solche Einrichtungen zurückgriffen, dass sogar ein heftig vernarrter Mann wie Lord Nelson keine Möglichkeit sah, seine beiden Kinder samt der Mutter zu unterhalten, obwohl diese Beziehung öffentlich bekannt war. Scheinbar ruhig fragte sie: „Woher wissen Sie das?“
„Es sickert durch“, flüsterte Adorna. „Und nicht zuletzt durch Mutter. Sie hat mit diesem Findelhaus zu tun, und sie klatscht zu gerne.“
„Warum, glauben Sie, hat Ihr Bruder mir gegenüber Ihre Mutter als so furchterregend sittenstreng geschildert? Für mich klang es, als ob sie schrecklich schnell Anstoß nähme.“
„Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht spaßeshalber? Selbst ich merke nicht immer, wenn er nur Spaß macht.“ Sie winkte Tamworth und Caterina zu. „Also, diese beiden scheinen sich gut zu amüsieren.“
Das fand Amelie auch. Caterina lachte jedenfalls so vergnügt, als hätte sie nie Kummer gehabt.
Den restlichen Ausflug nahm Amelie nur wie durch einen Nebel wahr, derart vertieft war sie in ihre sich jagenden Gedanken. Anstatt zu beruhigen, hatte das Gespräch mit Adorna nur neue Fragen aufgeworfen. Da ihr die Hintergründe dieses Verlöbnisses nicht bekannt sind, mag sie wohl glauben, dass ihr Bruder mich liebt und mich ernstlich heiraten will, dachte Amelie. Sie selbst sah das natürlich viel skeptischer. Ihm war es nur darum gegangen, sie ins Bett zu bekommen, besonders angesichts ihres Widerstandes. Und sie war nicht so naiv, Adornas Überzeugung zu teilen, immerhin hatte sie mit eigenen Augen gesehen, wie er von diesen … diesen Frauenzimmern angezogen worden war, wie er mit ihnen getanzt hatte. Den Rest konnte sie sich vorstellen.
Wenn allerdings die Vergangenheit der Marchioness of Sheen so zwielichtig war, fragte sie sich, warum er es so dargestellt hatte, als ob sie, wenn sie von den Leichen im Chester’schen Keller erfuhr, nicht mehr bereit wäre, Caterinas gesellschaftliches Fortkommen zu unterstützen. Und was sie gerade über Lord Nelsons Abkömmlinge erfahren hatte, machte ihr ebenfalls Angst, und sie grübelte, ob Lord Elyot möglicherweise von ihr das Gleiche verlangen werde. Doch verbissen schwor sie sich, dass nichts, aber auch gar nichts sie dazu bringen konnte, sich je von ihrem Kind zu trennen. Gleich, ob seine Existenz geheim gehalten oder der ganzen Welt kundgetan werden würde.
Wieder daheim, rätselte Amelie immer noch, was es mit Caterinas Stimmungsschwankungen auf sich haben könnte. In ihrer augenblicklichen Hochstimmung konnte sie nicht einmal dazu gebracht werden, für das morgige Zusammentreffen mit Signor Rauzzini zu üben. Stattdessen pflückte sie im Garten ganze Arme voller Blumen, weil sie, wie sie behauptete, noch nie so wunderschöne Farben gesehen habe. Dann verschwand sie für mehrere Stunden, und Amelie stellte verzweifelt Erkundungen nach ihrem Verbleib an. Schließlich stellte sich heraus, dass sie zu Fuß und ganz allein den Hügel hinaufmarschiert war, um sich an der Aussicht zu erfreuen.
„Allein?“, fragte Amelie äußerst verärgert. „Warum hast du nicht die Zofe mitgenommen? Oder zumindest gesagt, was du vorhast? Was um Himmels willen hast du dir nur dabei gedacht, Caterina?“
Mit vom Wind zerzauster, gelöster Frisur und derangierter Kleidung stand Caterina vor ihr, ein schwärmerisches Lächeln auf dem Gesicht. „Die Hügel … die Wiesen … wie daheim“, sagte sie in einem melodischen Singsang, während ihr Tränen unter den geschlossenen Lidern hervorquollen.
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