Skandalfilme - cineastische Aufreger gestern und heute
die Konfrontation mit der von ihnen als engstirnig und intolerant empfundenen «normalen» Gesellschaft. Gleichzeitig konstituieren sie sich erst durch das inszenierte Anderssein als Gruppe, die zugleich jeder und jedem Einzelnen eine neue Identität verleihen soll. Dafür begeben sie sich auf die Suche nach ihrem inneren Idioten. Denn, so die diffuse Vorstellung, nur wer den gefunden hat, kommt mit sich selbst ins Reine. Innerhalb der Gruppe entfalten sich dabei gruppendynamische Prozesse, die im Laufe des Films immer mehr außer Kontrolle geraten. Die gruppentherapeutischen Elemente schlagen mehr und mehr in Gruppenzwang um. Von Anfang an ist auch die scheinbar egalitäre Idioten-Kommune geprägt von hierarchischen Strukturen und Machtkämpfen, die im Verlaufe des Gruppenexperiments immer deutlicher zu Tage treten.
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I DIOTERNE
Dänemark (1998)
Produktion: Zentropa Entertainments2, ApS, DR TV in Co-Produktion mit Liberator Productions S.a.r., La Sept Cinéma, Argus Film Productive, VPRO Television, ZDF, Arte
Produzent: Vibeke Windelov, Marianne Slot, Peter von Vogelpoel, Eric Shut
Buch und Regie: Lars von Trier
Kamera: Lars von Trier
Schnitt: Molly Malene Stensgaard
Darsteller: Bodil Jörgensen (Karen), Jens Albinus (Stoffer), Anne Louise Hassing (Susanne), Troels Lyby (Henrik), Nikolaj Lie Kaas (Jeppe)
FSK: ab 16
Länge (DVD): 117 Minuten
Verleih: Arthaus
Anbieter (DVD): Arthaus/Kinowelt
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Angeführt wird die Gruppe vom ebenso kreativen wie tyrannischen Stoffer, dem es zunächst vor allem darum geht, die Außenwelt zu provozieren. Bei einem Restaurantbesuch der vermeintlich geistig Behinderten treffen die Idioten auf Karen, die sich nach dem Tod ihres Kindes in einer tiefen Lebenskrise befindet und den jungen Leute aufgeschlossen begegnet. Anfangs traut sie sich noch nicht, aktiv an deren Rollenspiel teilzunehmen. Sie beobachtet, wie die jungen Menschen als Behinderte in Fabriken auftreten (Abb. 154), ein Schwimmbad besuchen, wie sie Adventsgestecke an Haustüren verkaufen, aber auch wie sie in ihrer Enklave untereinander das Spiel immer weiter treiben. Dabei treten die Unzulänglichkeiten und Abgründe des Experiments immer deutlicher zum Vorschein. Als eine Gruppe echter Behinderter die Villa besucht, wissen die falschen Behinderten nicht, wie sie auf dieses zynische Aufeinandertreffen reagieren sollen. Und als ein «cooler» Vater mit Sonnenbrille und wenigen Worten seine psychisch kranke Tochter aus den Fängen der Gruppe befreit, erscheint die Kommune plötzlich im Licht einer weltfremden Sekte. Stoffer reagiertauf den drohenden Zerfall der Gruppe mit immer drastischeren Forderungen nach Selbstaufgabe, die ihren Höhepunkt schließlich in einer ebenso drastisch inszenierten Gruppensexszene findet.
154 Gespielte Behinderung …
Die zunehmende Radikalisierung führt dazu – oder kann zumindest nicht verhindern, dass die Gruppe am Ende auseinander bricht. Stoffer fordert von seinen Anhängern immer noch mehr «Mut» ein: Sie sollen sich auch bei Freunden, Verwandten und an ihrem Arbeitsplatz «idiotisch» verhalten. An diesem rigorosen, totalitären Anspruch scheitert die Gruppe. Nach und nach löst sie sich auf. Einzig Karen scheint am Ende von ihrem inneren «Idioten» zu profitieren. Durch das «idiotische» Spiel vollzog sie eine innere Metamorphose. Das erste Mal seit dem Tod ihres Kindes hat sie jetzt die Kraft für ein Treffen mit ihrem Mann und dem Rest ihrer Familie. Das Wiedersehen aber verläuft bedrückend, die Kluft zwischen Karen und den anderen erweist sich als unüberwindbar. Sie finden keine Worte, keine Wärme füreinander. Für Karen gibt es nach dem Tod ihres Kindes kein Zurück in ihr altes Leben. Bei Kaffee und Kuchen schlüpft sie noch einmal hinein in den schützenden Kokon der spastisch zuckenden, sabbernden «Idiotin». Am Ende bleibt ihr nur die Wahl, sich ganz der Idiotie zu überlassen oder zu gehen. Und sie geht.
Mit I DIOTEN (Abb. 154–158) hat Lars von Trier einen vielschichtigen, deutungsoffenen Film über das ambivalente Verhältnis von Widerstand und Anpassung geschaffen. Indem sie die geltenden sozialen Moralmaßstäbe ideologisch-zwanghaft in ihr Gegenteil verkehrt, spiegelt die Gruppe um Stoffer die von ihr verachtete Gesellschaft unter umgekehrten Vorzeichen wider. Der soziale Anpassungsdruck verwandelt sich in den Gruppenterror der Unkonventionalität. Das Experiment «Idioten» kann letztlich nur eine Zeit lang funktionieren, um möglicherweise
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