Skiria: Am Berg der Drachen (German Edition)
Drachen saß. Welchen Mut dies erforderte! Während er die Arme seitwärts hielt und damit wedelte, als besäße nicht Ramin, sondern er Flügel, die sie durch den kühler werdenden Abendhimmel trugen, begann der Knabe lauthals ein Lied seines Heimatdorfes zu singen, dessen Text er ein wenig umwandelte. Voller Inbrunst trällerte er:
„So nah’ am güld‘nen Sonnenglühn
Reit‘ ich heut‘ meinen Drachen kühn
Durch himmelblaue Lüfte
Wie ein König auf seinem Ross
Auf dem Weg zu des Zaub‘rers Schloss
Überwind‘ ich hohe Klüfte
Seht nur der holde Knabe -
Besitzt die magische Gabe!
Er besitzt die magische Gahahabe ...“
Gerne hätte Ramin ihn ermahnt, sich still zu verhalten, denn Gwendols heiterer Gesang störte seine Konzentration. Doch Ramin wollte seine Kräfte schonen, sodass er beschloss, zu schweigen und Gwendol einfach zu ignorieren, solange der Junge sich nicht ernsthaft in Gefahr begab. Irgendwie würde es schon gelingen, den anstrengenden Flug zu überstehen. Ramin sah nach unten, um die Höhe zu kontrollieren.
Der Wald wirkte wie ein Teppich, geknüpft aus Wolle verschiedenster Grünfärbungen, in die sich herbstlich getönte Tupfen mischten. Als er wieder aufblickte, erhob sich weit hinten am Horizont ein hoch aufragender, bebauter Hügel. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf das Schloss, das majestätisch auf der Anhöhe thronte, und tauchten seine Mauern in ein warmes orangefarbenes Licht. Ein stattliches Bauwerk, das seine unzähligen Türme grazil wie kunstvoll geschnitzte Elfenbeinfiguren in die Luft reckte.
So nah vor ihrem Ziel, füllten sich Ramins Flügel jedoch immer mehr mit bleierner Schwere und drohten ihn unnachgiebig nach unten ziehen. Einige Male streifte Ramin beinahe die höchsten der Wipfel, doch schließlich kämpfte er sich wieder hoch. Die wiedergewonnene Stabilität währte nicht lange. Seine Kraftreserven versiegten.
„Ich muss irgendwo landen!“
„Ja, dort drüben am Schloss!“, entgegnete Gwendol überflüssigerweise.
„Nein, jetzt sofort!“, keuchte Ramin und sackte mehrere Fuß weit nach unten. Tannenspitzen schlugen gegen seine Klauen. Verzweifelt sah er sich nach einem geeigneten Landeplatz um, doch nirgends durchbrach eine Lichtung das durchgängige Blätterdach.
Endlich erkannte auch Gwendol, wie es um Ramins verbleibende Energien stand.
„Halt durch! Nur noch ein kleines Stück!“, versuchte der Junge den Drachen zu bestärken, doch der japste nur noch: „Es geht nicht mehr. Ich muss landen, egal wo!“
Die Bäume wichen so plötzlich einer freien, schimmernden Fläche, dass Ramin zunächst glaubte, es handele sich um eine täuschende Lichtspiegelung. Doch dann erkannte er das kräftige Azurblau eines Waldsees, der sich, dicht umstanden von schwarzgrünen Fichten, still in die Landschaft schmiegte. Kein Platz zum Landen. Ramin verließen endgültig die Kräfte. Er geriet ins Trudeln, verlor noch mehr an Höhe, bis er schließlich steil nach unten stürzte, auf die Oberfläche des Sees aufplatschte und zwischen hoch aufspritzenden Wassermassen versank. Gwendol schrie erbärmlich, als die Fontänen über ihnen zusammenbrachen.
Schäumende Strudel rissen die beiden in die Tiefe. Ramin sank schnell. Das sprudelnde Weiß der aufgeschäumten Gischt verdeckte die Sicht. Ob Gwendol schwimmen konnte? Als angehender Zauberer sollte der Junge dessen eigentlich mächtig sein, fand das Tier, doch sicher war er sich keineswegs. Er musste ihn suchen. Da sich Ramin geschickt im Wasser bewegte, fiel es ihm nicht schwer, seine Klauen und Flügel wie Flossen einzusetzen, um zügig voranzukommen. Seine kräftige Lunge befähigte ihn, mühelos einige Minuten unter Wasser zu verbringen. Langsam beruhigten sich die Wirbel. Das kühle Nass teilte sich gefügig, als Ramin geschmeidig wie ein Aal über den Grund des Sees glitt.
XII.
Rabanus drängte es, seine Trophäen in bare Münze umzuwandeln, damit er sich all die Annehmlichkeiten, die Umiena bot, auch leisten konnte.
Er träumte bereits von ausgiebigen Besuchen in den städtischen Schenken, von üppigen Speisen, starkem Gebräu, von den bewundernden Blicken braver Bürger, die ehrfürchtig seinen abenteuerlichen Geschichten lauschten und von schönen Mädchen, die sich eng um ihn scharten, nur, um einmal ihren Helden berühren zu dürfen.
Auch in Skiria regte sich die Vorfreude. Vor allem wieder in einem richtigen Bett zu schlafen, schien
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