Sklaven der Begierde
freudig ängstliche Erwartung, zu steigern. Um das Unvermeidliche noch eine Weile hinauszuzögern. Und auch, um ein wenig das Gesicht zu wahren. Ja, er wollte, dass es passierte, aber Søren brauchte nicht unbedingt zu wissen, wie scharf er wirklich darauf war. Und dann … dann war er gefangen worden. Er konnte den eisenharten Griff um seinen Hals bis heute spüren, diese starken Finger an seiner Kehle. Den harten Waldboden unter seinem Rücken und den Mund an seinem Ohr.
„Kingsley, nimm dich bitte zusammen.“
Lachend öffnete er die Augen. „Ich kann nicht anders. Die Erinnerungen sind zu mächtig.“
„Dann versuch es wenigstens“, verlangte Søren, aber auf seinen Lippen sah Kingsley die Andeutung eines Lächelns.
„Denkst du nie mehr daran?“ Kingsley hinterließ tiefe Fußspuren auf dem feuchten Boden, als er auf Søren zukam. „Diese Nacht im Wald hinter der Schule? Sie hat uns beide verändert. Sie hat alles verändert.“
„Es bringt nichts, darüber zu reden, das weißt du doch. Vergangenes sollte vergangen bleiben.“
Kingsley schüttelte den Kopf. „Non . Vergangenes bleibt nur so lange vergangen, wie es ihm genehm ist. Und irgendetwas in deiner Vergangenheit hat keine Lust mehr, dort zu bleiben.“
„Was willst du damit sagen?“
„Es war Eleanors Akte, die gestohlen wurde, obwohl ich Tausende Akten im Archiv habe. Es war ein Foto von dir und mir, das man mir anonym zugeschickt hat. Und es war dein Kinderzimmer in Elizabeths Haus, das verwüstet wurde. Eleanor, Elizabeth und ich – was haben wir drei gemeinsam?“
Søren schaute hinab auf die Spuren im weichen Boden. Gleich neben Kingsleys großem Stiefelabdruck war ein viel kleinerer nackter Fuß zu sehen.
Dann schaute Søren hinauf zum Himmel und schloss die Lider. Kingsley schwieg und ließ ihn beten.
Langsam atmete Søren aus und öffnete die Augen.
„Mich.“
SÜDEN
Zum zweiten Mal an diesem Abend war Nora für eine volle Minute sprachlos.
„Wes“, sagte sie dann.
„Nora?“
„Das kann doch wohl nicht wahr sein.“
„Was?“
„Du hast gesagt, dass du im Gästehaus wohnst.“
„Das ist das Gästehaus.“
„Es ist größer als mein Haus in Connecticut.“
„Wir haben viele Gäste.“
Nora ließ ihre Tasche auf den Boden der Eingangshalle fallen und blickte sich staunend um. Das Gästehaus sah völlig anders aus als das Hauptgebäude, war aber auf seine – etwas kleinere – Art nicht minder grandios. Hinter der rauen Natursteinfassade verbarg sich eine exquisite Ausstattung, die Möbel in Schwarz und Braun elegant aufeinander abgestimmt, alles sehr luxuriös und doch behaglich. Auf den ersten Blick hatte das Haus zwei Etagen, aber Nora war ziemlich sicher, dass es auch noch ein Untergeschoss gab. Der gewaltige Kamin im Wohnzimmer nahm eine gesamte Wand ein, vom Boden bis zur Decke.
„Wesley, mach dich nicht lächerlich. Was ist das hier für ein Gebäude?“
„Du wirst es nicht glauben, wenn ich’s dir erzähle.“
„Erzähl es mir trotzdem.“
„Das hier sind die alten Sklavenunterkünfte. Natürlich gründlich renoviert und aufgemöbelt.“
Nora machte große Augen. „Im Ernst?“
Er nickte. „Kentucky war der ‚Sklavenstaat‘. Und da wir uns während des Bürgerkriegs nicht von der Union losgesagt haben, galt die Emanzipations-Proklamation, mit der 1862 die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten erklärt wurde, nicht für uns. Bis zur Ratifizierung des dreizehnten Zusatzartikels zur Verfassung galt Sklavenhaltung hier als legal. Also bis zum 18. Dezember 1865.“
„Noch mal zum Mitschreiben: Du willst mir tatsächlich allen Ernstes weismachen, dass du in einer echten Sklavenunterkunft wohnst? Dass hier in diesem Haus tatsächlich Sklaven lebten?“
Wesley verzog das Gesicht. „Na ja, sofern man das ‚Leben‘ nennen konnte.“
Nora ließ ihren Blick durch die geschichtsträchtige Halle schweifen und nickte zufrieden. „Wie verrückt ist das denn!“
„Lass uns mal weitergehen. Ich zeige dir dein Zimmer.“
„Ein Sklavenzimmer?“
„Vermutlich schon.“
„Wirst du mich verprügeln und dazu zwingen, dass ich meinen Namen zu Toby ändere?“
„Seit wann bist du denn so rassistisch, Nora?“
„Die einzige Freundin, die ich habe, stammt aus Haiti. Und eine unserer Lieblingsbeschäftigungen ist es, zusammen Roots zu gucken und jedes Mal, wenn jemand ‚Toby‘ sagt, einen Wodka zu kippen.“
„Jetzt reicht’s aber. Sonst schicke ich dich doch ins Motel.“
Nora
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