Sklaven der Begierde
zwar nicht, warum du hier bist, aber ich bin für jede Hilfe dankbar, die ich kriegen kann.“
„Es ist mir stets eine Freude, dir zu Diensten zu sein. Schließlich gehöre ich ja irgendwie zur Familie.“ Er warf einen raschen Seitenblick auf Søren, doch der reagierte nicht auf diese Bemerkung. Elizabeth wusste von der kurzen, tragischen Ehe ihres Bruders mit Kingsleys Schwester Marie-Laure. Er hatte keine Ahnung, was sie davon hielt, und es war ihm auch egal. Die Verbindung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, aber immerhin gab sie Søren einen guten, nachvollziehbaren Grund, mit einer so schillernden Persönlichkeit wie Kingsley Edge zu verkehren.
„Ich bin mir nicht sicher, dass es eine gute Idee ist, ausgerechnet zu dieser Familie gehören zu wollen“, bemerkte Elizabeth und führte sie durch die Halle und über die Haupttreppe nach oben. Dann wandte sie sich nach links und schritt auf den Ostflügel zu, wo die Kinderzimmer untergebracht waren.
Verstohlen beobachtete Kingsley Sørens Gesicht. Jeder Raum hier steckte voller Erinnerungen an die grässliche Kindheit des Priesters. In einem kleinen Zimmer ganz am Ende des Ostflügels hatte seine Mutter ihn zur Welt gebracht. In vollkommener Stille. Mit schier unglaublicher Willenskraft hatte sie jedes Geräusch, jeden Laut im Keim erstickt, denn sie wollte Sørens sadistischem Vater nicht die Genugtuung verschaffen, sie schreien zu hören. Und in der Bibliothek wäre er fast gestorben, damals, als sein Vater ihn dabei ertappte, wie er auf dem Fußboden vor dem Kamin Sex mit seiner Schwester hatte.
Elizabeth öffnete schweigend die Tür zum letzten Zimmer auf der linken Seite.
Sørens Kinderzimmer.
Der Zustand des Raumes machte jede weitere Erklärung überflüssig.
„Mon dieu …“ Kingsley legte erschrocken die Hände vor den Mund.
In diesem Zimmer war der elfjährige Marcus Stearns eines Abends friedlich eingeschlafen, und als er wieder aufwachte, steckte er in seiner Schwester.
In diesem Bett hatte er, durch Vergewaltigung und Inzest, seine Unschuld verloren.
Und jetzt hatte irgendjemand dieses Bett in Brand gesetzt und komplett abgefackelt.
An der Wand, mit Asche geschrieben, standen die Worte: Liebe deine Schwester .
„Sollte Kingsley nicht besser …“, flüsterte Elizabeth.
„Kingsley weiß Bescheid. Er ist einer von zwei Menschen, denen ich es erzählt habe.“
Kingsley zuckte innerlich zusammen und versuchte, Elizabeths Miene zu deuten. Hatte sich Søren eben verplappert? Hatte er ungewollt durchblicken lassen, dass es noch einen weiteren Vertrauten gab? Elizabeth war, wie ihr Bruder, gefährlich intelligent. Er konnte nur hoffen, dass sie annehmen würde, Søren habe von seinem Beichtvater gesprochen. Denn sollte sie jemals herausfinden, dass ihr Priester-Bruder ein junges Mädchen seiner Gemeinde verführt hatte … dann bliebe hier – und in Sørens Welt – kein Stein mehr auf dem anderen.
Elizabeth nickte. Søren starrte auf die Schrift an der Wand.
„Ich habe die Polizei nicht gerufen, weil ich den Beamten nicht erklären wollte, was diese Worte bedeuten“, fuhr sie fort. „Ich wollte ihnen nicht von uns erzählen. Aber ich habe eine Alarmanlage an jeder Tür, und ich schalte sie jeden Abend ein. Ich habe sogar eine Kamera über der Eingangstür installieren lassen. Sie ist auf die Auffahrt vor dem Haus gerichtet. Niemand ist hier angekommen.“ Sie atmete tief ein und wieder aus. „Soll ich die Polizei rufen? Wenn du es für richtig hältst, mache ich es.“
Søren schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Ruf sie nicht. Das hier ist kein Fall für die Polizei.“
„Aber was …“
„Geh weg von hier.“ Er sah sie an und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Nimm die Jungs mit. Geht weit weg, nach Europa, nach Asien, nach Australien. Und bleibt nicht zu lange an einem Ort. Am besten, ihr brecht sofort auf.“
„Was ist überhaupt los? Warum bist du ausgerechnet heute gekommen? Ich habe das Bett heute Morgen so vorgefunden und die Jungs gleich zu einem Freund geschickt. Seither frage ich mich, was ich jetzt tun soll.“
Søren blickte auf den Haufen aus Asche und verkohltem Holz, genau da, wo einst sein Bett gestanden hatte. Er sagte nichts.
Kingsley antwortete an seiner Stelle. „Mir wurde ein Foto zugeschickt, es zeigt uns beide während unserer Schulzeit. Der Umschlag wurde hier abgestempelt. Sonst gab es keine Hinweise auf die Herkunft, keine Notiz, kein Absender, gar nichts. Nur diese eine alte
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