Sklaven der Begierde
konnte er dann neuerdings einfach nicht aufhören zu lächeln?
Der Frühling kam überpünktlich in diesem Jahr. Der Schnee schmolz und gab den Waldboden frei, der die kalten Monate wieder mal unbeschadet überstanden hatte. Nach einer Woche Nichtwinter kamen Frühlingsgefühle auf, und alle siebenundvierzig Schüler stoch der Hafer. Sie strömten ins Freie und stürmten das einzige flache Stückchen Rasen zum Baseball- und Footballspielen.
Football? Kingsley rollte mit den Augen. Er würde diesen dämlichen amerikanischen Jungen mal einen richtigen Fußball zeigen. Er holte das runde Leder unter seinem Bett hervor und nahm es mit hinaus. Während die anderen einander Frisbeescheiben und ovale Football-Pigskins zuwarfen, baute Kingsley sich allein am Rand des Spielfelds auf und fing an, seinen Ball auf dem Knie zu jonglieren. Dann wechselte er, nur so aus Spaß, das Bein, jonglierte auch mal mit dem Knöchel statt mit dem Knie, von links nach rechts, von rechts nach links, minutenlang, ohne den Ball zu verlieren oder anzuhalten. Mittlerweile hatte sich ein Publikum um ihn versammelt. Die Mitschüler versuchten, ihn durch Pfiffe und neckende Zwischenrufe aus dem Konzept zu bringen. Aber Kingsley konnte seine Tricks locker eine Stunde und länger durchhalten. Aus irgendeinem Grund konnte er sogar besonders gut nachdenken, wenn er dabei einen Fußball in Bewegung hielt. Sein Gemüt klärte sich, und alles, was ihn sonst quälte – seine Eltern waren tot, seine Großeltern waren alt und machten sich ständig Sorgen um ihn, seine Schwester Marie-Laure schlug sich als aufstrebende Ballerina in Paris durch – war auf einmal viel leichter zu ertragen. Ja, sogar das Elend mit Marie-Laure … Sie schrieb ihm regelmäßig, aber ihre Briefe waren so voller Tränenspuren, dass er es kaum ertragen konnte, sie zu lesen. Ihre Trauer, ihre Verzweiflung … Sie behauptete, dass sie verrückt werden würde, wenn sie ihn nicht bald sehen konnte. Er glaubte ihr beinahe.
Aber wenn er mit einem Fußball allein war, verschwand sie aus seinem Bewusstsein, so wie jeder andere auch.
Fast jeder andere.
Ein Gesicht hielt sich hartnäckig vor Kingsleys geistigem Auge. Das übertrieben schöne Gesicht des Mannes, der ihn gerade bei seinen Spielchen beobachtete. Anders als die anderen Jungen gab Stearns keine schrillen Pfiffe von sich und tat auch sonst nichts, um seine Konzentration zu stören. Doch allein seine Augen, allein die Tatsache, dass dieser stechende Blick auf ihm ruhte, führte dazu, dass Kingsley den Ball um ein Haar fallen ließ.
Linkes Knie. Rechtes Knie. Rechtes Knie. Linkes Knie.
Kingsley balancierte weiter und atmete weiter.
Und dann, nur um seinen Zuschauern ein bewunderndes „Ohhh“ zu entringen und vielleicht auch, um Stearns ein wenig zu beeindrucken, schleuderte er den Ball in die Luft und lenkte ihn mit dem Kopf zurück auf sein Knie. Dann schleuderte er ihn wieder in die Luft, hielt ihn für eine Sekunde auf dem Nacken, brachte ihn von dort aus erneut zum Schweben und fing ihn mit dem Knie ab.
Rechtes Knie. Linkes Knie. Linker Knöchel. Rechtes Knie.
„Kannst du auch richtig Fußball spielen, King?“, wollte Christian wissen. „Oder machst du einfach nur gern mit deinen Bällen rum?“
„Ich kann spielen“, gab Kingsley zurück, ohne ins Detail zu gehen. Tatsächlich konnte er mehr als nur passabel spielen. An seiner alten Schule in Frankreich war er der Beste gewesen, er war sogar bereits als Nachwuchsspieler für den Club Paris Saint-Germain im Gespräch gewesen. Sobald er alt genug gewesen wäre, hätte er die Profilaufbahn einschlagen wollen. Aber das war vor dem Zugunglück gewesen, vor Maine. „Das Problem ist nur, dass keiner hier gut genug ist, um gegen mich anzutreten.“
„Tut mir leid“, witzelte Christian. „Wir sind nun mal alles Amerikaner. Wir spielen Football. Nicht Fußball.“
Kingsley lachte. „Ihr hättet sowieso keine Chance. Einmal hatte ich eine ganze Mannschaft gegen mich, und ich habe trotzdem das Tor geschossen.“
„Im Ernst?“, fragte Derek. „Eine ganze Mannschaft?“
„Jedenfalls hat es sich so angefühlt.“ Kingsley grinste. „Aber das ist auch völlig egal. Keiner von euch kann Fußball spielen. Also spiele ich mit mir selbst.“ Er zwinkerte Christian zu, und in den nächsten Minuten bestand das Gespräch hauptsächlich aus Masturbationswitzen.
Rechtes Knie. Rechtes Knie. Rechtes Knie. Links.
Ohhs. Ahhs. Freundliches Gespött. Gelächter.
„Ich kann
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