Sklaven der Begierde
werde nicht schon wieder mit dir über den Petersdom und Rom diskutieren.“
„Auf jeden Fall schenke ich dir auch so ein Paar schicke rote Lederschuhe zu Weihnachten. Warum soll nur der Papst Spaß haben dürfen?“
„Manchmal vermisse ich es, dich verprügeln zu können, Kingsley, und das meine ich ganz ernst.“
Sie gingen auf das Hauptgebäude zu, in dem der Monsignore, Father Thomas, und die anderen Priester ihre Büros hatten. Kingsley schaute auf die barocke Eingangstür und versuchte, seine Gedanken in der Gegenwart zu halten. Er hatte sich auf dem Flug hierher schon viel zu sehr seinen Erinnerungen hingegeben. Hier in den Wäldern rund um die Schule war der Junge Kingsley Boissonneault gestorben. Der Mann, der einmal Kingsley Edge werden sollte, war an seiner Stelle auferstanden.
Und hier war seine Schwester Marie-Laure gestorben – und nicht wiedergeboren worden.
„Versuche, nicht an sie zu denken“, mahnte Søren, und Kingsley hätte ihn auf der Stelle für diesen profanen Ratschlag getötet, wenn seine Stimme dabei nicht so besorgt und beinahe zärtlich geklungen hätte.
„Das ist unmöglich. Ich muss an sie denken. Sie war alles, was ich nach dem Tod meiner Eltern noch hatte. Der Tag, an dem sie mich von ihr weggebracht haben …“
Er versuchte, sich nicht zu erinnern, aber es war unmöglich.
„Ich hatte wochenlang blaue Flecke“, sagte er dann und ballte seine Finger unwillkürlich zu Fäusten.
„Von Marie-Laure oder von mir?“
Kingsley warf ihm einen scharfen Blick zu. Normalerweise vermied der Priester es wie die Pest, über jene Nacht zu sprechen, in der sie Liebhaber wurden. Und jetzt auf einmal … Er brachte seine Gesichtszüge mühsam unter Kontrolle.
„Die Wunden, die Marie-Laure mir damals zugefügt hat, als sie sich so verzweifelt an mich klammerte, sind nach drei Wochen verheilt. Die, die von dir stammen …“
„Was ist mit denen?“
Kingsley grinste grimmig. „Ich lass es dich wissen, sobald sie verheilt sind.“
Søren atmete heftig aus und öffnete den Mund, um zu antworten. Doch in diesem Moment sprang die Tür zum Hauptgebäude auf, und ein Mann in Soutane hastete ihnen entgegen.
„Father Stearns.“ Der Priester war hörbar außer Atem. „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie kommen wollten.“ Er schüttelte ihm die Hand.
„Freut mich, Sie wiederzusehen, Father Marczak. Wir sind nur für einen kurzen Besuch hier. Das ist Kingsley Edge, ein Freund und ebenfalls früherer Schüler von St. Ignatius.“
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr Edge.“
Kingsley gab ihm die Hand und nickte. Er hatte heute keine Lust, seinen französischen Akzent zu unterdrücken, und noch weniger Geduld, die Fragen zu beantworten, die dieser Akzent zwangsläufig auslöste. Also hielt er lieber den Mund. Je weniger er sagte, desto mehr redeten die anderen. Eine Taktik, die er in seinen Tagen als Spion perfektioniert hatte.
„Was führt Sie beide denn her? Father Thomas ist leider auf einer Konferenz, und ich fürchte, ich bin kein angemessener Ersatz.“
„Machen Sie sich bitte keine Umstände, wir sind aus rein nostalgischen Gründen hier. Wir wollten einfach nur die alte Schule wiedersehen.“
„Aber selbstverständlich. Hier ist einiges besser geworden, dank Ihrer Großzügigkeit. Neue Rohrleitungen. Neue Heizungsanlage. Auf sämtlichen Gebäuden wurden die Dächer neu gedeckt … Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich wir über Ihre …“
Søren hob abwehrend die Hände, um den Father zum Schweigen zu bringen. Kingsley wusste, dass sein Freund viel öfter nach St. Ignatius kommen würde, wenn er nicht bei jedem Besuch diese überschwänglichen Danksagungen über sich ergehen lassen müsste.
„Ich freue mich, dass ich der Schule dabei helfen konnte, die gute Arbeit hier fortzusetzen. Dieser Ort hat mein Leben gerettet.“
„Und Sie haben St. Ignatius gerettet.“
„Dann sind wir ja quitt“, sagte Søren, und Father Marczak lächelte entgegenkommend.
„Selbstverständlich. Die Schule steht zu Ihrer Verfügung. Gehen Sie gern auch in die Klassenräume, die Jungen freuen sich immer, wenn Besucher den Unterricht unterbrechen. Und falls Sie irgendetwas benötigen sollten, finden Sie mich in Father Henrys … ich meine, in Father Thomas‘ Büro.“
„Vielen Dank, Father. Da Sie gerade von Besuchern sprechen – ist Ihnen da in letzter Zeit vielleicht jemand besonders aufgefallen?“
Father Marczak schaute neugierig von einem zum anderen, fragte
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