Sklaven der Begierde
aber nicht weiter nach. „Nein, eigentlich nicht. Die meisten Besucher waren Mütter oder Väter, die erwägen, ihre Söhne nach St. Ignatius zu schicken, und sich hier vorher einmal umsehen wollten.“
„Keiner von denen wirkte irgendwie auffällig? Vielleicht sogar verdächtig? Ich frage nur, weil ich ein nicht unterzeichnetes Schreiben auf St.-Ignatius-Briefpapier erhalten habe, in dem sich jemand nach der Schule erkundigt.“
Für einen Priester, der gelobt hat, die zehn Gebote zu befolgen, konnte dieser Mann beeindruckend geschmeidig lügen, dachte Kingsley.
Father Marczak zuckte mit den Schultern. „Nicht dass ich wüsste. Vor einer Woche war eine alleinerziehende Mutter da, die mehr Fragen gestellt hat als alle anderen Eltern zusammen. Über die Geschichte der Schule, über die Schüler, die hier ihren Abschluss gemacht haben. Was die jetzt machen, was sie im Leben erreicht haben, solche Dinge.“
„Hatte sie einen Akzent?“, wollte Søren wissen. Kingsley runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage denn?
„Ich habe keinen bemerkt“, sagte Father Marczak. „Eine wirklich hübsche Frau, wenn ich das so sagen darf.“
Søren sah Kingsley an.
„Vielen Dank, Father. Wir kommen auf jeden Fall, um uns zu verabschieden, bevor wir wieder abfahren.“
Father Marczak schüttelte ihnen noch einmal die Hände und verschwand dann wieder in seinem Büro.
„Wir hätten ihn weiter befragen sollen“, gab Kingsley zu bedenken. „Wie sie aussah, woher sie angeblich kam …“
Søren schüttelte den Kopf. „Zu gefährlich. Und es bringt uns auch nicht wirklich weiter. Entweder hat die Frau nichts mit unserem Fall zu tun – und das ist das Wahrscheinlichste. Oder sie ist diejenige, die wir suchen, aber dann hätte sie dem Father so viele Lügen erzählt, dass seine Antworten uns nichts nützen würden.“
Dieser Logik hatte Kingsley nichts entgegenzusetzen. „Aber wonach suchen wir jetzt eigentlich, mon père? Wohin sollen wir gehen?“
„Dieses Foto von uns muss aus dem Archiv in der Bibliothek stammen.“
„Dann auf zur Bibliothek.“
Als sie dort ankamen, konnte Kingsley sehen, wo ein beachtlicher Teil von Sørens Erbe geblieben war. Zu ihrer Zeit war die Bibliothek von St. Ignatius ein kalter, spärlich ausgestatteter Raum gewesen. Billige Metallregale voll zerfallender religiöser Bände hatten sich hier aneinandergedrängt, die Sessel waren zerschlissen gewesen, die Teppiche noch zerschlissener. Heute sah es hier aus wie in der Bibliothek des Vatikans. Mit aufwendigen Schnitzereien biblischer Szenen und Symbole verzierte Regalwände aus dunkler Eiche ersetzten die schäbigen Blechdinger von früher. Und es gab mindestens viermal so viele Bücher wie damals. Überall luden elegante Sitzgruppen zum Studieren ein. Schmiedeeiserne Lüster warfen ein warmes Licht auf die Jungen, die mit Büchern oder Computern in den teuren Lehnstühlen saßen.
„Oh, là, là.“ Kingsley lachte. „Ist das hier eine Bibliothek oder ein Palast?“
„Eine Bibliothek sollte ein Palast sein. Liest du eigentlich jemals irgendwas, Kingsley? Ich meine, außer den Akten, die du selbst angelegt hast?“
„Bien sûr . Ich lese die Romane, die dein Haustier schreibt. Es macht mir Spaß, herauszufinden, wie viel sie aus meiner Welt stiehlt, um ihr eigene damit auszuschmücken.“
„Darf ich dich daran erinnern, dass es auch ihre Welt ist?“
„Es war ihre Welt. Und jetzt ist sie daraus geflohen.“
„Sie wird zurückkehren, da bin ich mir ganz sicher.“
„Wie schön, zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der sich frommen Wünschen hingibt“, seufzte Kingsley und lächelte. „Oh ja, sie wird zu dir zurückkehren – genauso sicher, wie du zu mir zurückkehren wirst.“
Statt einer Antwort drehte Søren sich um und ging auf das Archiv zu. Kingsley wertete das als Sieg.
Eine Stunde lang arbeiteten sie sich durch die gesammelten Erinnerungsstücke. Die übrigen Fotos, die Christian damals von der Schule und seinen Mitschülern geschossen hatte, schienen immer noch da zu sein, wo sie hingehörten. Kingsley nahm ein paar davon an sich und schob sie in eine Mappe.
„Was soll das denn?“
Er grinste. „Wer weiß, wozu die noch nützlich sind. Wir könnten Fingerabdrücke nehmen lassen, peut-être?“
„Ich würde in dieser Sache lieber ohne deine Verbindungen zur Polizei auskommen.“
„Na gut, dann telefoniere ich eben mit dem FBI.“
Søren funkelte ihn wütend an. Schon wieder. Wenn er nicht bald
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