Sklaven für Wutawia / Gauner mit der 'Goldenen Hand'
durch die Eichen-Allee.
„Willi. Hier sind wir doch schon mal
gewesen.“
Klößchen hob den Kopf.
Eben fuhren sie an seinem Elternhaus vorbei,
der Sauerlich-Villa, wo etliche Fenster erleuchtet waren. Die Jaguar-Limousine
stand vor der Garage.
„Die Frau Sauerlich“, sagte Olaf, „von
der du vorhin gesprochen hast, Willi, wohnt hier. Tolles Grundstück, wie? Der
Schokoladen-Fabrikant gehört zu den reichsten Leuten. Die sind meistens geizig.
Daß dir Frau Sauerlich damals fünf Mark geschenkt hat, beweist: Sie hat ihr
Herz nicht verschlossen.“
„Sie machte einen sehr sympathischen
Eindruck auf mich“, nickte Klößchen. „Und ich hoffe, Herr Olaf, Sie haben ihr
eine kleidsame Frisur verpaßt.“
Olaf zuckte zusammen, wobei er das
Lenkrad ein bißchen verriß. „Ich tue immer mein Bestes.“
Die Fahrt dauerte noch zehn Minuten.
Dann bogen die Wagen nacheinander in
eine Auffahrt und hielten schließlich auf dem Vorplatz einer Villa.
Im und am Haus herrschte
Festbeleuchtung.
Der Vorplatz war riesig, weshalb die
etwa 25 Nobelkutschen parken konnten, ohne sich gegenseitig Schrammen und
Lackschäden zuzufügen.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“,
wollte Katharina ihre beiden Kandidaten ( Prüflinge ) beruhigen. „Es sind
alles nette Leute.“
„Das wird sich rausstellen“, meinte
Tim. „Wir haben da sehr strenge Maßstäbe. Und verlangen Sie bitte nicht, daß
wir die Hände waschen oder die Schuhe abtreten. Wir sind voll und ganz wir —
mit allen Konsequenzen — und bleiben bei unserem Stil.“
Olaf stöhnte auf. Katharina lachte,
aber es klang verstört.
Die anderen waren schon drin und legten
in einer Art Vorhalle die Mäntel ab, wobei zwei Hausmädchen in gestreiften
Uniform-Kleidern behilflich waren.
Auch Tim und Klößchen entledigten sich
ihrer drei Mäntel, trennten sich aber weder von Fliegerkappe noch von
Kalabreser-Hut. Dann wurde die Tür zur Haupthalle geöffnet.
Sie hatte gewaltige Ausmaße und war
zwei Stockwerke hoch — mit Treppen rechts und links sowie der Galerie oben. Ein
Kronleuchter strahlte wie ein Feuerwerk. In einem vier Meter langen Kamin
kokelte ein halber Baumstamm, teils aschig, teils voller Glut. Auf der anderen
Seite der Halle hatten sechs Köche ein Büffet aufgebaut. Sie bedienten auch,
die Köche. Denn 70 oder 80 Münder wollten gestopft sein. Die Musik kam vom Band
und schien aus der Höhe herabzurieseln.
Die Gespräche verstummten. Alle Augen
richteten sich auf die beiden Jung-Penner.
Wenn jetzt einer glaubt, daß ich den Hut
abnehme, dachte Tim, hat er sich geschnitten.
„Hier sind meine beiden jungen
Freunde“, verkündete Katharina: „Tim und Willi. Sie tragen ihr schweres
Schicksal mit erstaunlichem Gleichmut. Sogar mit Fröhlichkeit. Und ich bin, wie
ich Ihnen allen schon versichert habe, verblüfft über ihr charaktervolles
Verhalten. Tim und Willi könnten aus ihrem Leben etwas machen. Sie hätten die
Anlagen, die Intelligenz, die Wendigkeit.“
Tim spähte umher.
War irgendwer da, den er zufällig
kannte?
Nein.
Klößchen hatte dieselbe Sorge und ließ
seine Blicke über die Gesichter huschen.
Dann war auch er beruhigt.
„So“, sagte Katharina, „jetzt stelle
ich euch erstmal Herrn Blöbb vor.“
Der Reisebüro-Inhaber war dick, hatte
ein teigiges Gesicht und Goldkronen. An seiner Zigarre saugte er wie ein Baby
am Schnuller.
Für einen Moment schien es, Blöbb wolle
den beiden die Hand hinstrecken, doch dann beherrschte er sich.
„Frau von Hippe“, sagte er, „ist ganz
beeindruckt von euch.“
„Das hat sie eben zum Ausdruck
gebracht“, nickte Tim, „wir haben zugehört.“
„Wie alt bist du?“
„Ich werde 14.“
„Wirklich? Siehst aus wie 17.“
„Ich weiß. Die Jahre als Penner zählen
doppelt. Willi ist derselbe Jahrgang wie ich. Wo wir geboren wurden, wissen wir
nicht. Die gesamte Vergangenheit liegt im dunkeln. Ist auch gut so. Niemand
soll sich unsertwegen schämen. Wäre auch lächerlich. Denn wir sind stolz auf
unser Leben. Wir sind so frei wie der Apfelblattsauger. Kennen Sie nicht? Das
ist ein Insekt — grün mit transparenten Flügeln. Lateinisch: Psylla mali. Er
wird zwar nur dreieinhalb Millimeter groß, scheidet aber als Larve große Mengen
Honigtau ab und verklebt damit Blätter und Blüten. Verbreitet ist der
Apfelblattsauger auf der ganzen Welt. Und so fühlen wir uns auch: überall zu
Hause, weltweit.“
Blöbb starrte ihn an, schloß nach einer
Weile den Mund. Einige der Damen — Herren
Weitere Kostenlose Bücher