Sklaverei
Carlos anderen Mädchen dieselben Versprechungen gemacht hatte. Er arbeitete für Luis, und seine Aufgabe bestand darin, den Mädchen falsche Hoffnungen zu machen und ihnen ein gewisses Gefühl der Freiheit zu geben. Wie konnte er sie so täuschen? Im Schutz der Bettdecke beschloss Arely an diesem Abend, in Cancún nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Sie sagte, sie habe sich gefühlt wie seine Sklavin, als hätten alle Männer die Macht, ihr Ketten anzulegen – nicht körperlich, sondern im Kopf – und sie verrückt zu machen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich den Verstand verliere. Sie haben zu mir gesagt: »Du bist ein undankbares Miststück.« Sie hätten mich aus der Armut gerettet und so würde ich es ihnen danken, mit meinem kindischen Trotz. Ich habe mich gefragt, ob ich wirklich verrückt bin. Mir gefällt das nicht, wenn sie mich zum Sex zwingen, manchmal ekelt es mich an, ich bin müde, und die Männer stinken. Ich mag keine Besoffenen. »Das ist eine Arbeit wie jede andere«, hat die Haushälterin gesagt. Aber ich wollte nie mehr tanzen, Schluss. Ich weiß nicht, ob man verrückt ist, nur weil man nicht mehr gehorchen will.
Arely war im Gefängnis von Cancún, als das CIAM -Team sie rettete. Am Tag zuvor hatte sie versucht, ohne ihren Pass, den ja ihre Zuhälter hatten, ein Flugzeug nach Venezuela zu besteigen. Doch die Mitarbeiter der Fluggesellschaft hatten ihr erklärt, ohne ihre Papiere dürften sie sie nicht mitnehmen. Wenig später sah sie Beamte der Einwanderungsbehörde, die sie erkannte, und rannte davon. Nach einer atemberaubenden Flucht fuhr sie in einem Taxi davon, doch sie konnte den Fahrer nicht bezahlen, da ihr die Polizisten am Flughafen ihr Geld abgenommen hatten, dafür dass sie sie gehen ließen. Der Taxifahrer war empört und lieferte sie bei der Polizei ab. Die Beamten sahen sie an und steckten sie sofort in eine Schublade. Blondes Haar, große und offensichtlich falsche Brüste, volle Lippen, Shorts, hohe Absätze und lange Beine – das konnte nur eine Prostituierte sein. Die Kriterien der Behörden sind klar: Nach Ansicht des Polizeichefs von Cancún sind Prostituierte der Abschaum der Gesellschaft, und der Bürgermeister Gregorio Sánchez Martínez bezeichnet sie gar als menschlichen Müll. Also wurde Arely ins Gefängnis gebracht und dort von vier Beamten vergewaltigt. Sie weinte, und der leitende Polizeibeamte fragte sie: »Was heulst du? Du bist eine Nutte, und dazu sind Nutten doch da!«
Einige Tage später interviewte ich den Gefängnisdirektor, der mir lächelnd mitteilte: »Das verstehen Sie nicht, Señora. Viele Mädchen leben davon, dass sie die Männer provozieren. Später bereuen sie es dann. Wahrscheinlich hat sie den Beamten Sex angeboten, damit sie sie gehen lassen. Aber hier halten wir uns an das Gesetz. Außerdem sagen mir meine Beamten, es stimmt gar nicht, sie haben sie nicht vergewaltigt. Sie ist schon vergewaltigt hier angekommen. Jungfrau war sie jedenfalls nicht.«
Das Rettungsteam brachte zwei Notärzte des Roten Kreuzes mit ins Gefängnis von Cancún: Der Gefängnisarzt hatte Arely eine Überdosis an Beruhigungsmitteln gespritzt, »um sie zu beruhigen, weil sie geschrien hat, sie wäre entführt und vergewaltigt worden«, so der Arzt. Als die Notärzte sie fanden, war sie betäubt und an ein Bett in der Krankenstation gefesselt. Sie erstatteten Anzeige und stellten die Diagnose, die junge Frau habe nach einer Überdosis Benzodiazepin einen psychotischen Schock erlitten. Der Gefängnisarzt versicherte den Notärzten, das Mädchen sei verrückt. Die Geschichte, die das Opfer den Behörden erzählen wollte, wies er als blanken Unsinn zurück. Arely hatte angegeben, sie sei einem Netz von Menschenhändlern entkommen, die damit drohten, sie zu ermorden, weil sie die Namen der Beteiligten kannte. Für den Arzt und die Polizeibeamten handelte es sich einfach um eine Prostituierte, weshalb ihre Aussage keinerlei Bedeutung hatte.
Die Krankenschwester und die Sozialarbeiterin von CIAM , die beide rund um die Uhr Opfer betreuen, brachten sie schließlich in die Betreuungseinrichtung der Organisation, wo sie sich duschen und in einem Einzelzimmer hinlegen konnte. Die Psychologin erklärte ihr, dass sie nun in Sicherheit sei und dass ihr niemand etwas antun werde. Doch Arely wollte es nicht glauben: Warum sollte eine Gruppe von Unbekannten sie beschützen? Ihre Käufer hatten sie überzeugt, dass ihr Leben niemandem etwas bedeutete außer ihnen. Die Behörden,
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