Sklaverei
Kennen Sie ihn? Sie sagt auch aus, dass der Anwalt, der die Einreise der ausländischen Frauen für einen Zuhälterring in Monterrey, Cancún und Puebla organisiert, der Bruder des Gouverneurs von Nuevo León ist. Könnten Sie einen Bericht an die Regierung schicken und um Schutz für die junge Frau bitten, bis sie nach Venezuela ausreist?«, fragte ich.
Sada stand nervös auf, öffnete eine kleine Glasdose mit Sahnebonbons und hielt sie mir hin. Ich nahm eines. Offensichtlich mit den Gedanken woanders, nahm er ein Bonbon, wickelte es aus seinem Papierchen und steckte es in den Mund. Schweigend ging er in seinem kleinen Büro auf und ab. Ich beschränkte mich darauf, seinem Schmatzen zu lauschen. Es schien, als wolle er Zeit gewinnen, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich sah er mich an und sagte: »Schauen Sie, Lydia, ich weiß nichts davon. Es ist besser, wenn Sie sich aus der Sache heraushalten. Ich habe es nicht in der Hand. Setzen Sie sich keiner Gefahr aus. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden.«
»Wollen Sie mir damit sagen, dass dieses Schleppernetzwerk mächtiger ist als die Behörden?«, protestierte ich. Er sah mich nervös und beinahe flehend an und rückte sich die Brille zurecht. Ich sah, wie sein weißer Hals rot wurde. Offenbar musste er seinen Ärger unterdrücken.
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gar nichts gesagt.« Er blieb stehen und sprach weiter. »Kümmern Sie sich besser um das, wovon Sie etwas verstehen: Betreuen Sie das Mädchen und sorgen Sie dafür, dass sie sich erholt.«
»Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, die Menschenhändler zu verhaften, als unaufhörlich Frauen zu retten?«, fragte ich, stand auf und nahm meine Tasche und mein Notizbuch an mich. Er stimmte mir zu, aber er meinte, das habe eine »kompetente Stelle« zu entscheiden. Jedes Mal, wenn mir ein Staatsdiener diese Antwort gibt, frage ich mich, ob er sich gerade als inkompetent bezeichnet hat.
Die Leiterin unserer Betreuungseinrichtung schickte einen Brief mit einer Liste der beteiligten Beamten der Einwanderungsbehörde, Fotografien und Arelys Bericht an den damaligen mexikanischen Regierungschef Santiago Creel. Drei Wochen später berichteten Tageszeitungen, Fernando Sada sei als Leiter der Einwanderungsbehörde von Cancún zurückgetreten, um die Stelle des Rektors einer privaten Universität anzunehmen.
Die verantwortliche Sozialarbeiterin erklärte mir, die venezolanische Botschaft weigere sich, der jungen Frau zu helfen. Sie empfahl, Arely in das Aufnahmelager für illegale Einwanderer in Cancún zu schicken, das damals eher einem schmutzigen, stinkenden Jugendgefängnis ähnelte. Die Aufseher behandelten die Opfer des Menschenhandels und der Zwangsprostitution wie Verbrecher. Erst im Jahr 2009 wurde endlich eine angemessene Unterkunft gebaut.
Da sich der venezolanische Botschafter weigerte, mit mir zu sprechen, rief ich Emma Toledo an, die Leiterin des venezolanischen Konsulats in Mexiko-Stadt. Toledo antwortete mir freundlich, aber bestimmt: »Schauen Sie, Lydia, ich weiß, dass die Mitarbeiter von CIAM für ihre Arbeit jede Anerkennung verdient haben. Es ist nicht so, als würde sich das Konsulat weigern, eine venezolanische Bürgerin zu schützen. Aber leider haben wir weder das Geld noch das Personal, um den Fall zu bearbeiten. Jedes Jahr fallen Tausende junge Frauen aus Venezuela diesen Subjekten in die Hände, und unser Geld reicht einfach nicht aus, um allen Begleitschutz zu geben und sie wieder nach Hause zu bringen, wie die Sozialarbeiterin es mir vorschlägt. Wir tun, was wir können.« Sie klang betroffen, und in ihrer Stimme schwang ehrliche Frustration.
Der Heimweg
Es gelang den Mitarbeitern von CIAM , via Internet und Telefon Kontakt zu Arelys Familie aufzunehmen. Die Familie schickte sofort Kopien der Geburtsurkunde, damit die venezolanische Botschaft einen neuen Pass ausstellen konnte. Die Originaldokumente befanden sich im Safe der Menschenhändler aus Monterrey, und keine Behörde hatte allzu großes Interesse daran, sie wiederzubeschaffen. Sechs Wochen später wurde Arely heimlich nach Mexiko-Stadt transportiert, wo sie fünf Tage unter Sonderstatus in der Aufnahmestelle der Einwanderungsbehörde untergebracht wurde. Schließlich flog sie nach Venezuela zurück und wurde dort von ihrem älteren Bruder in Empfang genommen. Die Familie war glücklich, rief bei mir an und schrieb Dankesmails an die Betreuungsstätte, nachdem sie schon befürchtet hatte, Arely
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