Sklavin des Herzens
auf seine Unterlagen nicht finden konnte. Vielleicht hätte er den Mann erkannt, doch ein umfangreicher Burnus, das mit einer Kapuze versehene Gewand der Wüste, hüllte ihn von Kopf bis Fuß ein, und die Tatsache, daß der Fremde das Kinn gesenkt hielt, so daß die Kapuze ihm tief über die Stirn fiel, machte die Vermummung komplett.
In seiner Verwirrung verzichtete Omar auf die üblichen Empfangszeremonien und kam direkt zur Sache. »Ihr Name ist mir nicht geläufig. Von welchem Stamm kommen Sie?«
Die Antwort bestand aus einer Gegenfrage. »Sind Sie das, Omar?«
Der Großwesir erstarrte. Diese Stimme erkannte er nur zu gut. »Jamil? Was für ein Spiel treiben Sie mit mir?«
Ein volles und tiefes Lachen erscholl. Wie lange war es her, daß Jamil so herzlich gelacht hatte? Omar furchte befremdet die Stirn, denn der Mann hatte den Kopf gehoben, und ein glattrasiertes Kinn wurde unter der Kapuze sichtbar.
»Wer sind Sie?« fragte Omar mit einem drohenden Unterton.
»Kommen Sie, alter Knabe, Sie können mich doch nicht vergessen haben – nach nur neunzehn Jahren.«
Omars Mund öffnete sich in äußerster Verblüffung. Niemand sprach so respektlos mit ihm. Niemand! Er erhob sich, um die Wächter zu rufen, damit sie den arroganten Hund entfernten, doch dann hielt er inne. Die Kapuze wurde zurückgeschlagen, und ein Paar lachender grüner Augen trafen seinen Blick ohne Furcht oder Reue. Omar setzte sich wieder, das heißt, er sank in die Kissen zurück, und seine erneut geöffneten Lippen drückten Sprachlosigkeit aus.
»Kasim? Sind Sie es wirklich?« brachte er schließlich hervor.
»Kein anderer«, erklang die kecke Antwort.
Omar sprang auf und umrundete den langen, niedrigen Tisch, der von offiziellen Dokumenten und Bittgesuchen bedeckt war. »Sie sind gekommen! Allah sei gepriesen, Sie sind wirklich gekommen!« – »Dachten Sie, ich käme nicht?«
Derek wurde begeistert umarmt. Für einen kleinen Mann, der doppelt so alt war wie Derek, besaß Omar beachtliche Kräfte. Der Neuankömmling stöhnte unter dem eisernen Griff.
»Wir wußten es nicht«, erklärte Omar und trat zurück, um die vielen Veränderungen in sich aufzunehmen, die neunzehn Jahre bewirkt hatten. »Wir konnten es nicht wissen. Es wurden so viele Boten ausgesendet, und so viele fanden den Tod.«
»Das hörte ich von Ali ben-Khalil.«
»Dann war er der eine, der Sie erreicht hat? Der Limonadenverkäufer?«
Derek nickte lächelnd. »Er bestand darauf, daß ich ihn einsperren sollte, nachdem er mich gefunden hatte.«
»Ein kluger Bursche. Und Sie waren so weise, sich zu verkleiden. Ich fürchtete, Sie würden das nicht tun, aber ich konnte Sie in unserer Nachricht nicht warnen, sonst wäre der einfache Code offenbar geworden.«
»Wie geht es Jamil?«
»Er ist unverletzt, obwohl letzten Monat ein weiterer Anschlag auf sein Leben verübt wurde.«
»Wissen Sie, wer dahintersteckt?«
Omar hob mit Abscheu die Hände. »Wir haben nichts erfahren, absolut nichts! Wer auch immer die Attentäter anheuert – er gibt sich ihnen nicht zu erkennen.«
»Ist es Selim?«
»Wir können uns keinen anderen vorstellen, aber niemand ist über jeden Verdacht erhaben.«
»Wo hält er sich auf?«
Omar seufzte. »Zuletzt wurde er am Hof des Sultans in Istanbul gesehen. Wir haben nun eine wahre Armee losgeschickt, aber er versteckt sich gut.«
»Haben Sie an die Möglichkeit gedacht, daß er vielleicht schon beseitigt wurde?« meinte Derek. »Wie alt ist Mustafas jüngster Sohn jetzt?«
»Er ist erst elf Jahre alt – und ja, wir haben daran gedacht, wie wir auch alle von Jamils Feinden in Betracht gezogen haben.«
»Und seine Frauen?«
Omar lachte in sich hinein. »Sie denken immer noch wie ein Moslem, Kasim.«
»Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter von der fanatischen Rivalität erzählte, die zwischen Mustafas Frauen herrschte, und daß Mahmud zweimal beinahe an Gift gestorben wäre.«
»Und hat Jamil Ihnen später geschrieben, daß Mustafas vierte Frau dafür verantwortlich war und daß sie die Dummheit besaß, einen Anschlag auf ihn zu versuchen, was ihr ein Grab auf dem Grunde des Meeres bescherte?«
Derek brummte. Nein, das hatte er nicht erfahren, aber es wunderte ihn nicht. Lebendig in einen mit Steinen beschwerten Sack geschnürt und ins Meer geworfen zu werden, war des Sultans bevorzugte Methode, sich mißliebig gewordener Frauen seines Harems zu entledigen. Warum sollte Mustafa anders gewesen sein? Selten wurde eine Frau auf andere
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