Skorpion
überlegen die sich, wem gegenüber sie loyal sind.«
Der Mann von der UNGLA zögerte. Er warf einen Blick zurück zur Tür. Carl erhob sich.
»Forcieren wir das Ganze doch nicht, hm, Mehmet?«, bemerkte er locker.
Sevgi fand ihn später im Erdgeschoss, wo er im Wartebereich saß und sich irgendeine billige Fernsehshow auf dem Bildschirm an der Decke ansah. Eine Wasserstoffblondine mit Mikro taperte auf der Bühne hin und her, gekleidet in etwas, das nicht viel mehr war als geschlitzte Bänder, und Posen und Bewegungen waren so angelegt, dass sie möglichst viel sonnengebräunte Haut zeigen sollten. Ein Tanzensemble aus jungen Männern und Frauen, ähnlich unbekleidet, ahmte hirnlos ihr Gehampel nach. Der schwachsinnige Song ging weiter, begleitet von Instrumenten, die man nicht sehen konnte.
»Mögen Sie so was?«, fragte sie.
»Ist besser als das, was ich zuvor gesehen habe.« Er sah an ihr vorbei. »Was haben Sie mit Névant angestellt?«
»Er kommt runter.«
»Ah, ja.« Marsalis Blick glitt zum Bildschirm zurück. »Eines muss man euch Leuten ja lassen, so was kriegt ihr optimal hin.«
»Euch Leuten?«
»Menschen. Sehen Sie mal!« Er winkte mit der verbundenen Hand zu den fröhlich gefärbten Bildern hoch. »Perfekter Gleichschritt. Gruppenkonsens. Kein Wunder, dass ihr so gute Soldaten abgebt.«
»Schon ’ne gewisse Ironie, das von Ihnen zu hören«, meinte sie giftig. »Komplimente vom hochmodernen Krieger!«
Er lächelte. »Ertekin, Sie glauben doch nicht etwa alles, was man Ihnen in den Nachrichten erzählt?«
Der Aufzug klingelte, und Battal Yavuz trat heraus, der Névant vor sich hertrieb. Der blasse Dreizehner trug einen Verband wie eine Maske mitten über dem Gesicht sowie einen ähnlichen Verband um die gebrochene Hand. Er wirkte guten Mutes.
»Bis zum nächsten Mal«, meinte er zu Marsalis. Er hob die gebrochene Hand. »Wenn die hier wieder funktioniert, vielleicht.«
»Natürlich. Du weißt, wo ich wohne. Besuch mich doch, sobald du raus bist.«
Yavuz sah etwas dämlich drein. »Tut mir leid, diese Sache, Carl. Wenn ich gewusst hätte, dass er dich…«
»Schon gut. Ist ja nichts passiert.« Carl stand auf und schlug dem Türken auf die Schulter. »Danke fürs Herkommen. War nett, dich zu sehen.«
Sevgi lungerte herum und beobachtete Névant aus dem Augenwinkel.
»Ich soll doch bestimmt bis zum Heliport mitkommen«, meinte sie zu Yavuz.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.«
»Aber wenn…«
Marsalis grinste. »Zeig ihr deinen Knöchel, Stéphane!«
Als würden sie alle gemeinsam über einen Witz lachen, hob der Franzose das linke Hosenbein an. Eng ums Schienbein geschlungen lag das schmale Band eines glänzenden, durchbrochenen schwarzen Materials. Es war nicht viel größer als eine Herrenarmbanduhr, aber ein winziges grünes Lämpchen blinkte unermüdlich an einer Kante. Sie hätte wirklich nicht überrascht sein sollen, aber ihr stockte nach wie vor einen Moment lang der Atem bei diesem Anblick.
»Freigang-Fessel«, erklärte Yavuz. »Niemand verlässt ohne eine das Gelände. Stéphane wird mir keine Probleme bereiten.«
»Und wenn er sie abmacht? Eine Möglichkeit entdeckt, sie loszuschneiden?«
»Dagegen ist sie gesichert«, meinte Névant merkwürdig sanft. »Wie ein Wolfeisen. Jedes Herumfummeln löst sie aus. Wollen Sie wissen, was dann passiert?«
Sie wusste es bereits. Die Wolfeisen hatten eine lange und unangenehme Geschichte, in ihrem Fall verschlimmert durch eine enge persönliche Verbindung. Berichte in den Nachrichten über verstümmelte muslimische Kriegsgefangene in amerikanischem Gewahrsam verfolgten ihren Vater beharrlich bei der Wahl seines Auswanderungsziels – seine Mails in den letzten Wochen, bevor er Istanbul endgültig verließ, waren durchsetzt mit schlecht geschriebenen Todesdrohungen. In den Nachrichten tobte eine Kontroverse, billige und ätzende Säure überschattete Murats persönlichen Kampf um Kultur und Bewusstsein – westliche Experten wiesen wütend die Beschuldigungen zurück, bei denen es um Kriegsverbrechen ging, insbesondere um den Gebrauch modifizierter Handschellen bei Bestrafungen nach der Schariah in zahllosen der selbst ernannten islamischen Republiken, eine Zurückweisung, die eine Weile lang aufrechterhalten blieb, dann zunehmend hohl klang, als offensichtlich wurde, wer den Verfechtern des reinen Islam ihre Verstümmelungs-Technologie verkaufte. Murat, der bei jedem Biss in irgendwelches Obst eine saure,
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