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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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nicht natürlich zu sein, wäre es auch niemals. Er ertrug es, weil es sein musste und weil es, wenn Carmen zu ihm kam, die Sache wert war. Lag er hinterher mit ihr beisammen, spürte er anscheinend den nahenden Sturm und ertrug ihn mit demselben trostreichen Schmerz, den er in jenem letzten Sommer verspürt hatte, bevor er nach Bozeman und über den Zaun gegangen war. Es war das Gefühl, dass einem die Zeit davonlief; das Gefühl, dass plötzlich alles, was man normalerweise für selbstverständlich hielt, einen Wert hatte, weil es bald dahin wäre.
    Aber der Sturm kam niemals.
    Stattdessen warteten sie, und das Leben an Bord der schwimmenden Stadt nahm dieselben trostlosen Dimensionen an wie das Leben überall sonst, wo man zu überleben versuchte und wo keine Heimat war. Er hing bei Daskeen Azul herum, suchte nach einer Beschäftigung und nahm an Arbeit alles an, was man ihm gab. Er hielt sich von dem Fremden fern – selbst jetzt, da er gelernt hatte, ihn Merrin zu nennen, selbst jetzt, da ihm nicht mehr die Knie zitterten, wenn er ihm in die hohlen Augen sah –, und er stellte keine Fragen, wenn Merrin und Carmen für lange Zeit miteinander verschwanden. Aber etwas geschah mit der Heiterkeit, die er vor all diesen Monaten auf dem verlassenen Flugplatz verspürt hatte, und es war etwas Schlimmes.
    Er wollte nicht daran denken, dass es mangelnder Glaube war, nicht schon wieder. Er betete mehr, als er jemals daheim gebetet hatte, und worum er betete, war zumeist Führung. Denn das, was damals auf dem Flugplatz so klar erschienen war – damals, als sein Kopf noch verbunden gewesen war und die Furcht frisch in seinem Herzen gelegen hatte –, wich langsam, aber sicher einer Menge widerstreitender Stimmen in eben jenem Kopf und Herzen. Er wusste, dass das Jüngste Gericht bevorstand, und zunächst hatte er eine fast selbstgefällige Überlegenheit unter den anderen Arbeitern und Kunden an Bord der Cat entwickelt, während er sie dabei beobachtet hatte, wie sie in Unwissenheit das zu Ende lebten, was wahrscheinlich die letzten Monate ihres Daseins waren. Aber dieses Gefühl war rasch verblasst. Jetzt drückte ihn eben jener gesegnete Zustand der Unwissenheit genauso schlimm wie ein schlecht sitzender Schuh, reizte etwas tief in ihm derart, dass er ihnen an die Kehle gehen wollte, während sie wie die Schafe durch die glitzernden Glasfronten der Einkaufsmeile liefen oder während der Arbeitspausen in den Eingeweiden der Bulgakov’s Cat saßen und wie geistig Minderbemittelte lauthals lachten und herumbrüllten, was sie mit diesem geilen Luder Asia Badawi täten, wenn sie jemals mit ihr in einem Aufzug wären. Er wollte sie würgen, ihnen Ohrfeigen verpassen, ihre idiotische Selbstgefälligkeit zerschmettern, ihnen ins Gesicht schreien: Begreift ihr nicht, es ist an der Zeit! Er kommt, seht ihr es nicht! Ihr werdet gewogen und für zu leicht befunden werden!
    Er zwang das Gefühl nieder, tiefer in sich hinein. Betete um Geduld, sprach mit Carmen.
    Aber heutzutage war selbst Carmen nicht die Zuflucht, die sie einmal gewesen war. Wenn sie miteinander schliefen, spürte er manchmal, wie sie beim Akt eine Ungeduld ausdünstete, als wäre er irgendein unangenehmer Tang um eine Markierungsboje auf dem Grund und Boden von Ward. Ein paar Mal hatte sie ihn nach dem Koitus angefaucht, sich natürlich sofort entschuldigt, ihm gesagt, es täte ihr leid, sie sei müde, ja, sie sei des Wartens ebenfalls müde, aber so müsse es halt nun mal sein, es sei ein schwerer Weg für die, äh, die Gerechten.
    Und da war Merrin.
    Jetzt überschwemmte ihn der unsichere Glaube wirklich, strömte ihm die Arme hinauf, ließ ihm die Haare in einer geisterhaften Liebkosung zu Berge stehen. Er drückte ihm den Schweiß aus den Handflächen und ummantelte ihn mit einer kalten Furcht, als stünde er an einem Abgrund. Was, wenn er sich irrte? Was, wenn Carmen sich irrte, was, wenn sie alle sich irrten? Merrin bekam er so weit nie zu Gesicht. Scott wusste nicht, was er die ganze Zeit über eigentlich tat. Aber seine Gegenwart fühlte sich nicht die wie Gegenwart eines Erlösers an, eines Himmelskönigs, der im Triumph wiederkehrte. Eher war es, als teile man V-Zeit mit einem nackten Protokoll-’face, einem jener bis auf die blanken Knochen entkleideten Chassis-Modelle, die man von der Stange kaufen und selbst herrichten konnte, wie es diese Kinder, mit denen er in Freeport einmal eine Schlafstelle geteilt hatte, immer getan hatten. Merrin sprach

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