Skorpion
Tränen.
»Was ist mit Onbekend?«, fragte Norton.
Das verwirrende Gefühl des Wahnsinns war noch nicht verschwunden. Es umkreiste ihn wie eine Straßengang. Inmitten des übelkeitserregenden Entsetzens fragte er sich, ob sich so ein Dreizehner fühlte, ob man das für sich akzeptieren musste, um so zu leben, wie es Marsalis tat und Merrin getan hatte. Er fragte sich, wie leicht es wäre loszulassen, und ob man hinterher je wieder zu seinem alten Selbst fände.
Jeff stieß raue, keuchende Laute aus.
»Was ist mit Onbekend?«
»Na gut, ich sag’s euch, ich sag’s euch, verdammt!« Jeffs Stimme brach. Er hörte auf, sich befreien zu wollen, lag bloß auf dem Sofa, schluckte Luft und weinte langsam Tränen auf den Stoff. »Lassen Sie mich nur hoch. Bitte!«
Wiederum warf Marsalis einen kurzen Blick zu Norton hinüber. Der nickte. Mein Bruder ist weder Soldat noch Krimineller, hatte er dem Dreizehner in der Nacht zuvor gesagt. Er ist in dieser Hinsicht nicht körperlich zäh, er wird sich nicht wehren. Lassen Sie mich die Sache nur beim richtigen Namen nennen, und wir werden alles von ihm bekommen, was wir brauchen.
Marsalis zog Jeff auf dem Sofa zum Sitzen hoch. Er trat weg und stellte sich neben den Schreibtisch. Verschränkte die Arme.
»Dann schießen Sie los!«
Jeffs Blick wanderte vom schwarzen Mann zu seinem Bruder. Norton erwiderte den Blick.
»Tom…«
»Du hast gehört, was er gesagt hat. Schieß los!«
Jeff Norton schien in sich selbst zusammenzubrechen. Er zitterte. Marsalis und Norton tauschten einen Blick. Norton hob eine Hand von seinem Schoß. Wartete. Jeff rieb sich mit den Händen über das Gesicht, zog sie durch das Haar. Heftig schniefend wischte er sich die Augen. Norton ertappte sich bei dem Gedanken: Ja, weine nur, Jeff. Er dachte diese Worte mit einer Heftigkeit, die ihn bis in die Grundfesten erschütterte. Weine, wie wir alle geweint haben, verdammt! Wie Sevgi und ich, wie Marsalis und Megan und Nuying, vermutlich, und wer weiß, wie viele andere noch. Willst das Alpha-Männchen spielen, großer Bruder? Willkommen an Bord!
Jeff ließ die Hände fallen. Er holte ein schwächliches Lächeln herauf und ließ es auf seinem Gesicht erstarren. Drückte wieder mächtig auf die Tränendrüse.
»Seht mal, ihr habt ja keine Ahnung, wie tief das reicht, Tom. Onbekend ist nicht bloß irgendein Dreizehner…«
»Ja, er ist Merrins Zwillingsbruder«, unterbrach Marsalis ihn schlicht. »So weit haben wir es bereits begriffen. Sie ließen Carmen Ren Merrin sicher unter Verschluss halten, während Onbekend die Runde drehte und in ganz Jesusland und dem Rim genetisches Material an Tatorten zurückließ. Zur rechten Zeit taucht Merrin dann auf, praktischerweise tot, und nimmt die Verantwortung für alles auf sich. Die Frage ist, warum? Wer waren all diese Leute?«
Jeff schloss die Augen. Seufzte. »Kann ich bitte einen Drink haben?«
»Nein, Sie können keinen verdammten Drink haben!«, sagte Marsalis. »Wir haben gerade festgestellt, dass wir Sie am Leben lassen. Denken Sie dran, was Ihnen da beschert wurde, und reden Sie, verflucht!«
Jeff sah zu seinem Bruder hinüber. Auf seinem Gesicht lag Erschöpfung. Norton zog die Verbindung – Jeff musste seine Kulisse haben. Tränendrüse.
»Natürlich. Ich hole dir einen Drink, Jeff«, sagte er sanft. Er sah den ungläubigen Blick des schwarzen Mannes und vollführte erneut eine winzige Geste mit der erhobenen Hand. »Wo bewahrst du die Flaschen auf?«
»Im Wandschränkchen. Da stehen eine Flasche Martell und ein paar Gläser. Bitte, bedient euch!« Jeff Norton wandte sich an Marsalis. »Für einen Dreizehner lässt er Sie ganz schön nach seiner Pfeife tanzen, nicht wahr?«
Marsalis sah auf ihn herab. Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Sie wollen das überprüfen?«
»Was überprüfen?«
Norton an dem geöffneten Wandschränkchen sah sich gerade rechtzeitig um, dass er mitbekam, wie die Faust des schwarzen Mannes aus Hüfthöhe hervorschnellte. Kurz, hart und mit voller Gewalt auf Jeffs Nase. Er hörte das Krachen, mit dem das Nasenbein brach. Jeff krümmte sich kreischend. Erneut flogen seine Hände zum Gesicht hoch. Blut strömte zwischen den Fingern hervor.
»Das war die Überprüfung«, sagte Marsalis gelassen.
Norton entdeckte eine Schachtel mit Papiertüchern auf dem Schreibtisch und trug sie zusammen mit der Flasche Cognac und einem einzelnen Glas hinüber zum Sofa. Er setzte alles auf den Beistelltisch, zog
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