Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Nachdem er die Position der BMW mehrmals verändert hatte, winkte er Annika zu sich.
„Dort sind zwei. Entweder sie jagen sich oder es ist ein Paar. Das Licht hat sie erschreckt. Siehst du sie?“ Annika schüttelte den Kopf. Al schaltete die schwere Taschenlampe ein, die an seinem Gürtel hing und leuchtete unter einen überhängenden Felsen, etwa zehn Meter von ihnen entfernt. Etwas wuselte undeutlich aus dem Lichtkegel. Es sah aus wie eine zu groß geratene Kellerassel. Dann erkannte Annika die mächtigen Scheren und den steil aufgerichteten, gegliederten Schwanz. Fasziniert beobachtete sie ein zweites Exemplar, welches sich dem ersten näherte. Die Tiere bewegten sich erstaunlich flink und begannen sich zu umkreisen. Eines der Tiere begann zu zucken und wenig später hielten sich die Skorpione an den Scheren wie zwei Schulkinder an den Händen und begannen tatsächlich eine Art Tanz aufzuführen. Ein eindrucksvolles, völlig fremdes und bizarres Schauspiel.
„Keine Angst, die sind jetzt mit sich selbst beschäftigt.“ Al versuchte Annika zu beruhigen, doch das aufgeregte Beben ihrer Nasenflügel hatte andere Ursachen. Annika hatte noch niemals Angst vor irgendwelchen Viechern gehabt. Als kleines Kind hatte sie jedem heimatlosen Tausendfüßler, jeder verwitweten Weinbergschnecke und jedem kriegsversehrten Maikäfer bereitwillig Asyl in ihren Hosentaschen und ihrem Mädchenzimmer gewährt, bis es ihrer Mutter zu bunt wurde und sie die Auffanglager kurzerhand die Toilette hinunterspülte. Annika beobachtete gebannt das Verhalten der Skorpione.
„Normalerweise trennen sie sich wieder sang und klanglos voneinander, wenn es vorüber ist, aber manchmal zieht sich die Lady ihren Lover auch hinterher zum Frühstück rein.“, erklärte Al und Annika lächelte.
„Gibt es hier eigentlich viele Skorpione?“
„Relativ gesehen schon. Sie sind allerdings nachtaktiv. Am Tag kriegst du sie kaum zu sehen. Bleib aber von den Ruinen der Kaserne weg. In den Mauerritzen und rund um den vergifteten Brunnen habe ich schon ein paar von den Kameraden gesehen. Gehst zwar nicht kaputt, wenn dich einer sticht, aber hässliche Beulen gibt’s und weh tut’s wie die Hölle.“
„Lass uns fahren, ja?“ Annika hatte es plötzlich eilig wieder zurückzukehren.
„Noch ein Tänzchen, kleine Skorpionin?“
„Heute nicht. Ein andermal vielleicht!“ Kichernd rannte sie zu der wartenden Maschine.
Sophia lag zusammengekauert in ihrem Schlafsack, das Moskitonetz sorgfältig rundherum festgesteckt. Bestimmt hatte sie es zehnmal überprüft, bevor sie eingeschlafen war, die hysterische Tussi.
Am nächsten Abend verabschiedete Annika sich als eine der Ersten von der Runde am Lagerfeuer. Sie sei müde und das geschmuggelte Bier sei ihr wohl auf den Magen geschlagen. Sie verschwand zwischen den Zelten und suchte die Latrine auf, die sich in einiger Entfernung zum Lager befand. Das Glas mit dem Schraubdeckel war noch am Platz. Sie hatte es nach dem Mittagessen unbemerkt eingesteckt. Vom Feuer her erklangen Gitarrenklänge und Carlos’ schmachtende Tenorstimme erklang. Die Rowland war längst fort, das Wohnmobil am frühen Abend wieder gestartet.
Die starken Scheinwerfer im Lager hatten auch einen Vorteil: Wo sie nicht hinreichten, herrschte rabenschwarzer Schlagschatten. Annika schlich vorsichtig, um die Wachen nicht auf sich aufmerksam zu machen, in einem großen Bogen auf die andere Seite des Lagers. Nach zehn Minuten erreichte sie den Brunnen. Sie ging in die Hocke und lauerte. Kindheitserinnerungen kamen wieder hoch. Stundenlang hatte sie als Siebenjährige vor einem Kaninchenbau sitzen können. Sie war eine geduldige Jägerin. Doch die Skorpione dachten überhaupt nicht daran, ihr zu Ehren einen Ballettabend zu veranstalten. Nachdem ihr zum dritten Mal die Beine eingeschlafen waren, suchte sich Annika einen dürren Ast und begann flache Steine umzudrehen. Einmal stockte ihr der Atem, als sie eine dünne, gelbe Schlange aufscheuchte, die sich träge in der kühlen Steifheit wand. Dann lachte ihr das Glück des Waidmanns. Ein etwa zehn Zentimeter großer Skorpion richtete drohend seinen stachelbewehrten Schwanz gegen das Stöckchen.
„Folge mir unauffällig“, zischte Annika und stülpte das Glas über das Spinnentier. Mit einer geschickten Bewegung kippte sie es nach hinten und schloss den Deckel. Lautlos huschte sie zurück ins Zelt, drapierte das Glas in ihrem Schlafsack und zog sich aus. Eine halbe Stunde später erschien
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