Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Menschen formen, konnte missionieren, er konnte den größten Bullshit so überzeugend rüberbringen, dass ihm sogar Einstein geglaubt hätte, die Erde sei eine Scheibe. Er hat Caprice in den Tod getrieben und anschließend mit mir getrauert, dass ich dachte, es zerreißt ihn. Können Sie sich das vorstellen? Er hat mir leid getan. Der Mörder meiner ganzen Familie hat mir leid getan! Jahrelang war ich in dem Glauben, unsere Beziehung wäre am Tod seiner geliebten Stieftochter gescheitert. Jahrelang!“
„Wann haben Sie herausgefunden, was wirklich passiert ist?“ Der Strafverteidiger hatte den um sein Leben fürchtenden Stephan zur Seite gedrängt. Glimms Stimme war klar, seine Frage weder Zeitschinderei noch Verzweiflung. Der Anwalt in ihm wollte die Wahrheit wissen.
Anstatt einer Antwort, erhob sie sich und zog die Schublade der Kredenz auf. „Als ich dies hier gefunden habe.“ Sie warf ihm ein kleines Buch zu. „Es gibt noch mehr davon. Alle ordentlich nummeriert und in Buchattrappen versteckt.“
Glimm fing es auf und öffnete es. Mädchenschrift. Sauber und ordentlich. Mit Bleistift gezogene Hilfslinien. Schöne, geschwungene Buchstaben beschrieben das nackte Grauen.
„Ich habe ihm daraus vorgelesen, da draußen. Er hat geweint wie ein Kind. Er hat mich angefleht, ihn zu erschießen. Wussten Sie, dass im Mittelalter gnädige Henker den Verurteilten Säckchen mit Schießpulver um den Hals gehängt haben, bevor der Scheiterhaufen angezündet wurde? Mörder, Diebe, Gotteslästerer, Hexen. Viele erhielten das Privileg eines verkürzten Todeskampfes. Er nicht. Erstaunlich wie zäh das Leben sich an einen Körper klammert, wenn schon die Gedärme auf der Erde liegen. Wirklich erstaunlich.“
Glimm legte das Buch auf den Tisch. Erschütterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Barlow nahm wieder Platz, legte den Revolver vor sich hin und nahm einen Schluck von dem Wein.
„Vier Wochen nachdem ich die Tagebücher gefunden habe, stand ich vor Ihrer Tür.“
„Um Marks für Sie aus dem Knast zu holen, damit Sie ihn töten können. Ich habe mich ganz schön krumm gemacht für Ihre Pläne. Habe meine Beziehungen spielen lassen, viel Geld in die Hand genommen …“
„Das habe ich auch. Gerade Sie sollten das wissen.“ Glimm nickte. Er wusste. Die Honorare waren so großzügig, dass er sie dem Finanzamt verschwiegen hatte, aus Angst, der zuständige Abteilungsleiter könne einen Herzinfarkt erleiden.
„Sie haben gute Arbeit geleistet, Herr Anwalt. Wie immer. Wer von Ihnen verteidigt wird, hat nicht viel zu befürchten. Ein Journalist hat einmal geschrieben, Sie würden sogar Gott dazu bringen, den Teufel zu begnadigen, wenn dieser Sie sich bloß leisten könnte. Ich kann das. Ich kann Sie bezahlen für Ihre perverse, schmutzige Arbeit. Verteidiger wie Sie sind die wahren Verbrecher. Sie sorgen dafür, dass diese Bestien mit lächerlichen Strafen und wirkungslosen Therapien davonkommen. Sie sorgen dafür, dass dieser Abschaum nach kurzer Zeit wieder geifernd auf die Jagd gehen kann. Sie sind nicht besser als Ihre Mandanten. Sie sind schuld am Tod junger Menschen, oder noch schlimmer, am Schicksal derer, die davongekommen sind, verstümmelt an Leib und Seele, zerstört für den Rest ihres Lebens. Sie sind das Monster. Sie werden dafür bezahlen!“
Bei den letzten Worten hatte sie sich erhoben, die Waffe wirkte wie ein organischer Teil ihrer Hand. Das runde Loch … Der Tod.
Die Schüsse fielen gleichzeitig mit den harten Schlägen gegen die massive Eingangstür. „Aufmachen, Polizei!“, waren die letzten Worte die Glimm hörte, bevor der reißende Schmerz der eindringenden Kugeln ihn in watteweiche Nacht fallen ließen. Das Letzte, das er bewusst wahrnahm, war das Lächeln von Anna-Sophia Barlow. So entspannt, so voller Frieden hatte er dieses Gesicht noch nie vorher erlebt. Die Skorpionin, gütig wie ein Muttergottesporträt.
Polizeikommissar Ernst Hainbacher lehnte sich locker in seinem knarrenden Drehstuhl zurück und beobachtete den spärlichen Verkehr auf der Straße. Das Wachzimmer der Polizeidirektion Mosbach war gut geheizt. Neben dem altmodischen Monitor dampfte eine Tasse Rooibos-Tee mit Milch, in der Ecke verdorrte ein Ficus Benjamini traurig vor sich hin und auf der Schalttafel für Funk und Telefon glommen grüne Lämpchen. Die wenigen Autofahrer, die jetzt noch unterwegs waren, krochen vorsichtig um die Ecken. Die üblichen Rempler und Ausrutscher bei der vorübergehenden
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