Skulduggery Pleasant 6 - Passage der Totenbeschwörer
gab es nur einen Stuhl und darauf saß Solus.
»Ja?«, fragte Solus, während sein Füllfederhalter über Pergamentpapier kratzte. Warum diese Leute sich keinen Computer zulegten, überstieg Kranz’ Verständnis.
»Wir sind von Sanktuariumsagenten umzingelt«, begann Kranz.
»Ich bin mir der Situation bewusst.«
»Wenn wir sie aufhalten wollen, bis der Todbringer seine Kräfte wiedererlangt, müssen wir die Tunnel zum Einsturz bringen und den Haupteingang verbarrikadieren.«
»Wie ich schon sagte, ich bin mir der Situation bewusst.«
»Aber es gibt einen Tunnel, dessen genaue Lage wir nicht kennen.«
Endlich hörte Solus’ Federhalter auf zu kratzen und er hob den Blick. »Du hast deinen eigenen Tunnel«, fuhr Kranz fort. »Über ihn bringst du Vorräte in den Tempel, von denen niemand etwas erfahren soll. Ich hatte nie ein Problem damit. Du machst deinen Job gut und wenn du gelegentlich der Meinung bist, du seist mit Heimlichtuerei am besten bedient - wer bin ich, dass ich etwas anderes behaupten könnte?«
»Warum bist du hergekommen?«, fragte Solus.
»Ich will deinen Tunnel nicht zum Einsturz bringen. Ich will ihn benutzen. Falls die Sache schiefläuft, will ich so viel Personal als möglich in Sicherheit bringen. Die Sanktuariumsagenten wissen von einigen unserer Tunnel, aber nicht von allen. Ich bezweifle, dass sie eine Ahnung von einem Tunnel haben, der so geheim ist, dass er in keinem offiziellen Verzeichnis aufgeführt ist.«
»Er ist schmal«, gab Solus zu bedenken, »und er ist lang. Falls der Tempel gestürmt wird, könntest du darüber vielleicht jeweils zehn oder zwölf Leute gleichzeitig evakuieren. Wären es mehr, würde er entdeckt.«
»Dann also immer nur zwölf Leute gleichzeitig. Die ersten zwölf werden der Todbringer sein, der Weiße Sensenträger und zehn Kleriker ersten Ranges. Dich eingeschlossen, natürlich. Wo ist der Eingang?«
Solus beäugte ihn wachsam, argwöhnisch. »In dem kleinen Lagerraum unter uns«, antwortete er. »Der Tunnel ist zwei Meilen lang. Er endet in einer kleinen Lagerhalle, die dem Tempel über drei verschiedene Tochtergesellschaften gehört. In der Halle stehen genügend Fahrzeuge, um eine große Zahl Menschen an einen sicheren Ort zu bringen.«
»Vielen Dank für deine Kooperation, Kleriker«, erwiderte Kranz. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich habe viel zu organisieren.«
Solus wedelte nur kurz mit der Hand. Als Kranz sein Büro verließ, kratzte sein Füllfederhalter bereits wieder über das Papier.
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DER LEBENDIGE TOTE
Seit dem Aufwallen ihrer Kräfte fühlte sich die Welt anders für sie an. Sie sah sogar anders aus. Heller, verschwommener. Weniger real. Auch die Leute sahen anders aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie erkennen, wie glasig und unfokussiert ihre Augen waren, wie durchsichtig ihre Haut. Fast glaubte sie, durch sie hindurchschauen zu können auf das, was darunter lag, auf das Blut und die Adern und die Knochen. Sie musste sich nur genügend konzentrieren. Sie fragte sich, ob ihr das die Gewissheit geben würde, dass dies alles Wirklichkeit war. Im Grunde bezweifelte sie es.
Der Weiße Sensenträger stand an der Tür. Er stand da wie eine Statue, die Sense in einer Hand. Er war real für sie. Er war echt. Mit einem Zombie hatte er genauso viel gemein wie Menschen mit Affen, und dennoch war er etwas Totes. Sie brauchte ihn also nicht einmal anzuschauen, um zu wissen, dass er da war. Sie spürte ihn. Sie wusste nicht, wie das möglich war, konnte es nicht erklären, doch während sie alle anderen nur noch verschwommen wahrnahm, war er das einzig deutlich Erkennbare, an das sie sich klammern konnte, wenn sie Trost brauchte.
Der andere Mann im Raum, ebenfalls eine Wache, war so substanzlos, dass er fast ein Geist war. Sie hatte ein paar Mal mit ihm gesprochen und vor dem Aufwallen ihrer Kräfte war er ihr vollkommen normal vorgekommen. Doch jetzt sah sie die Dinge anders. Sie schickte ihre Sinne in seine Richtung, versuchte ihn zu erspüren, wie sie den Weißen Sensenträger erspürte. Sie merkte, wie ihr Bewusstsein sich in alle Richtungen ausdehnte wie eine Blase. Sie empfand Leere und die Leere verursachte ihr ein Unwohlsein. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Trotzdem dehnte sie ihr Bewusstsein weiter aus und versuchte, den Mann zu erreichen. Er gab ein Geräusch von sich, sein Körper wurde steif und er wurde so plötzlich real für sie, dass sie erschrocken zurückwich. Ihre Bewusstseinsblase zog sich
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