SLAM (German Edition)
«
Karim kräuselte die Stirn . Was sollte das? » Natürlich die Backwaren, aber warum fragst du so einen Unsinn? Was ist mit dir los? Ich bin so froh, dich zu sehen, BEY, ich dachte ...«
BEY unterbrach ihn. » Du hast recht, kein Bäcker, der bei Verstand ist, würde das Backrezept in seine Auslage legen, denn wer sollte sich beim An blick eines beschriebenen Stück Papier s schon f ür seine Waren interessieren?«
Karim nickte zustimmend, sein Hals war zugeschnürt von H underten Fragen, die ihm in der Kehle stec kten und nach draußen drängten.
»Anderseits gehören Rezept und Kuchen untrennbar zusammen «, fuhr BEY fort . »D a wirst du mir zus timmen, nicht wahr ? Den Kuchen wird es ohne das Rezept nicht geben und ohne den Kuchen ergibt das Rezept keinen Sinn , verliert seine Daseinsberechtigung . Sie sind miteinander schicksalhaft verbunden, bedingen einander . Doch ist es allein der fertige Kuchen, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Einmal gebacken, beginnt er seine Umwelt zu verändern. Es kann sein, dass Leute Schlange nach diesem Kuchen stehen, weil er so köstlich schmeckt, dass er sogar knapp wird, weil so viele ihn essen wollen. Ja, es kann durchaus sein, dass man im Lauf der Zeit das Rezept ein wenig umändert, weil eine bestimmte Geschmackskomponente darin besser bei der Kundschaft ankommt. Vereinfacht gesagt, das Vorhandensein des Kuchens stellt das Rezept in den Schatten, bestimmt plötzlich die Spielregeln in der Bäckerei, modifiziert sie sogar. Und dabei beruht seine Herstellung auf einer nüchternen Abfolge von Informationen, deren Urheber nicht im Mindesten geahnt haben können, was er später bewirken würde. Resümee: Ein Kuchen ist ein Kuchen und nicht dessen Rezept. Denn das Rezept ist nicht in der Lage, irgendeine Veränderung auszulösen. Allein dessen Materialisation ist dazu imstande. So verhält es sich auch mit den Genen von Lebewesen und ihrer fassbaren Existenz.«
BEY blickte nachdenklich auf den S tapel Backwaren, der sich vor ihm auftürmte, und einen unwiderstehlichen Geruch verströmte. » Ich habe viel über unsere Gesellschaft nac hgedacht, Karim«, meinte er, noch nachdenklicher als zuvor. Seine Stimme klang brüchig und es schien ihm Mühe zu bereiten, weiterzusprechen. Der Fleck an seinem Kragen breitete sich stetig aus und Karim fragte sich besorgt, wie lange sein Freund noch durchhalten würde. Warum ließ er nicht erst seine Wund e versorgen? Dann wurde ihm bewusst , dass vor ihm ja kein Mensch saß, sondern lediglich eine Schimäre , für ihn vielleicht e in Mensch, ein Freund und Meister , aber in Wirklichkeit nur der verlängerte Arm eines allwissenden Geistes im Hintergrund. BEY war für ihn so real, so wirklich wie jeder andere Mensch auf der Welt, aber er war es eben nicht, denn der Mann vor ihm hatte ein Loch im Kopf und philosophierte . Es war verwirrend und faszinierend zugleich.
» Uns ere Gesellschaft basiert auf dem Islam, den wir inzwischen Slam nennen. D er Koran ist Fundament, Basis und Stütze unseres Lebens. Mohammed, Friede sei mit ihm, hat uns Richtung und Ausblick gegeben, ohne seine Worte würde Chaos herrschen. «
» Friede sei mit ihm « , antwortete Karim traditionsgemäß.
» Du kannst dir vorstellen , wie schwer es für mich ist zuzugeben, dass an dem Konzept, wie wir leben, etwas nicht stimmt. Alles scheint so perfekt, aber es ist nur das Rezept, das wir leben, nicht der Kuchen .«
»Ich verstehe nicht«, sagte Karim .
» M uslimische Gesellschaften akzeptieren nur das Rezept, nicht den Kuchen und seine vielfältigen und unberechenbaren Auswirkungen auf das Verhalten der Kunden in einer Bäckerei«, orakelte BEY. Karim runzelte wieder die Stirn . Er konnte BEY nicht folgen.
» Es ist sehr lange her, da haben deine männlichen Vorfahren entschieden, dass es unmöglich sei, da s Rezept und den Kuchen miteinander in Einklang zu bringen. Aber w ie du inzwischen bemerkt haben dürftest, gibt es außer Männer n noch eine andere Art Menschen, ein anderes Geschlecht. Du bist ein Mann, das andere Geschlecht nennt man Frau. Der Koran hat ein Rezept geliefert, wie Männer und Frauen zusammen leben können , und dieses Rezept wurde von deinen Vorvätern auch anerka nnt . Als aber der reale Kuchen vor ihnen stand, mussten sie feststellen, dass er eine Eigendynamik entwickelte, der letztlich nicht nur sein eigenes, sondern auch das Rezept der Männer veränderte – und die Spielregeln zwischen den Geschlechtern.«
» Wie das ? «,
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