SLAM (German Edition)
hin , wenn er zu ihnen spricht , und verstörende Erinnerungsfetzen taumeln dabei durch sein Hirn. All das kommt ihm bekannt vor, die andächtigen Gesichter, die Verbeugungen und das zustimmende Gemurmel, wenn er den Anwesenden erklärt, wie sie ihren Weg zu Gott ebnen können.
Unterdessen nimmt die Traurigkeit in seinem Inneren immer mehr Platz ein . Sie lässt ihn nicht los, hat ihn in ihren Klauen w ie eine boshafte Bestie, die sich in ihr Opfer verbissen hat und darauf wartet, dass es den Überlebenskampf aufgibt. Karim wehrt sich, lehrt und doziert, aber jeden Tag werden die Phasen länger, in denen die Last des Versagens so schwer auf ihm liegt, dass er glaubt, sich nie wieder erheben zu können. Und immer wieder steht er einsam am Fenster und starrt über die Grenzen der Stadt hinaus auf der Suche nach dem Grund für seinen Fluch. Nach Petra hat er sich nie wieder getraut.
Die Welt verändert sich, das spürt er, lange bevor die ersten Meldungen zu ihm gelangen. Seine Lehre von der Rückbesinnung ist mittlerweile weltweit angenommen worden und sein Name wird mit großer Ehrfurcht ausgesprochen. Im Innenhof der Universität spricht ihn ein Student mit Bey an. Sein ganzer Körper gerät in Unruhe, er strauchelt und muss den Arm ergreifen, de r ihm geboten wird. Er kennt dieses Gefühl, wieder hat jemand ein Wort gesagt, das eine Erinnerungsflut in ihm auslöst. Dieser Moment wird vorübergeh en, beruhigt er sich, das ist immer so . Er versucht gar nicht erst, einen Grund für seine Reaktion zu finden , weil er weiß, dass er doch nur in den Schatten herumtasten wird wie ein Blinder.
Aber es ist nicht n ur Ehrfurcht, die man ihm zeigt . Obschon man es vor ihm zu verheimlichen sucht, erfährt er doch, dass nicht alle seine Brüder mit dem Leben im neu erstarkten SLAM glücklich sind. Vielerorts wird die Lehre von der Rückbesinnung so drastisch ausgelebt, dass das Lachen aus dem Leben der Menschen verschwunden ist. Wächter des Glaubens flechten ein enges Netz aus Kontrollen, denen sich kein Mensch entziehen kann. Ein Bruch der Regeln wird streng bestraft. Karim ist entsetzt , als ihm zu Ohren kommt, dass es Tote gegeben habe . So etwas hat er in den hundertfünfzig Jahren s eines Lebens noch nicht erlebt.
Dieses Mal we int er. Er weint um seine Ideale und darum, was aus seinem Leben geworden und aus seinem Werk entstanden ist . Immer häufiger dringen schlimme M eldungen zu ihm durch von Flüchtlingen, die sich in die dünn besiedelten Gegenden der Erde zurückziehen, um dort freier leben zu können. Alle von ihnen werden zurückgebracht.
Gerüchte von Rauschgiften, mit denen sich vor allem junge Männer betäuben, ma chen die Runde. Unentwegt wollen sie von ihm hören, wie sie den SLAM retten, welchen Weg sie einschlagen sollen. Karim erklärt es ihnen, aber sie haben längst aufgehört, seinen Worten zu lauschen, sie haben ihre eigene Vorstellung von Ordnung , und die ist rigider, freudloser und härter , als er si e jemals hätte erdenken können. Nur durch absoluten Gehorsam, so sagen sie, kannst du deinen Weg zu Gott ebnen , und dann schreiben sie seinen Namen unter ihre Gesetze und laden mehr Schuld auf ihn, als er tragen kann.
In den letzten Jahren seines Lebens will er alleine sein. Er stellt sich seinen Dämonen, versucht sie aus der Reserve zu locken und hofft, endlich hinter das Geheimnis seiner nicht enden wollenden Depression zu kommen . A ber wie eine Fata Morgana entpuppt sich jede Spur als Trugschluss, wenn er ihr näher kommt. Er spricht nicht mehr zu den Menschen und besucht nur noch heimlich das Gotteshaus, wenn er sicher sein kann, niemandem zu begegnen. Er erträgt die Konfrontation mit seinem erneuten Versagen nicht.
Immer wieder belagern seine Anhänger sein Haus. Sie warten darauf, dass er vor die Türe tritt und zu ihnen spricht, doch Karim will ihnen keine Worte mehr geben, die sie missdeuten können , und so zieht er sich ganz aus der Stadt zurück.
Vor ihren Toren findet er ein wenig Ruhe und vor allem findet er den Wind, der stetig aus der Wüste weht und alles in seiner Wohnung mit einer dünnen, ewigen Schicht gelben Staubs bedeckt. Er spürt schon eine ganze Weile, dass seine Zeit bald abgelaufen ist , und fragt sich, wie er von dieser Welt gehen wird. Wird der Allmächtige ihn im Schlaf zu sich rufen? Das wünscht er sich und schämt sich sogleich für seine Feigheit.
Seine Kraft wird geringer , und er weiß, dass er sich nicht mehr lange gegen den lauernden Feind in sich
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