Slant
wirklich radikalen >Therapie< zu verstehen.
Giffeys Vater war ein mutiger und zäher Kerl, doch seine Mutter war schwach und verängstigt wie ein Reh, als die Männer mit den langen Bärten ins Lager marschierten und sie voneinander trennten.
Giffey hat diesen Leuten niemals verziehen. Giffey hasst sie alle. Er hasst die Bundesregierung, weil sie die schnellen Veränderungen im späten zwanzigsten Jahrhundert begünstigte, weil sie während des einundzwanzigsten die Nano-Revolution förderte und weil sie nicht wahrhaben wollte, welchen Druck diese Veränderungen auf die armen unflexiblen Survivalisten und orthodoxen Christen ausübten. All die Konfessionen und Parteien, die nicht mit diesen Umwälzungen zurechtkamen, drehten einfach durch.
Viele wanderten in die mittleren Staaten aus, weil sie die Combs und Corridors und brodelnden Hexenkessel der Wirtschaft in den Städten und an den Küsten nicht ertrugen. Sie wählten sich Nord-Idaho als ihr Refugium, um von dort aus der Bundesregierung zu trotzen. Damit begann der kleine brutale Krieg.
Giffey versteht ihre Motive, aber er empfindet trotzdem keinerlei Sympathie für sie.
Bei einer niedlichen Brünetten bestellt er sich ein Corned-Beef-Sandwich und betrachtet die antike Bier-Neonreklamen im Fenster über seinem Tisch. Er erinnert sich, dass sein Vater einige dieser Biersorten getrunken hat.
Giffeys Zorn kühlt sich allmählich ab. Er knirscht noch einmal mit den Zähnen und öffnet dann den Mund, um seine Gesichtsmuskeln zu bewegen, den Kampf aufzugeben. Er bewegt den Unterkiefer und den Kopf hin und her, bis er wieder so ist, wie er den Tag begonnen hat: kühl, bedächtig und selbstbeherrscht.
Die Kellnerin nimmt er zum ersten Mal richtig wahr, als sie mit dem Sandwich an seinen Tisch zurückkehrt. Sie ist etwa zwanzig Jahre jünger als er, hat lockiges braunes Haar, ein hübsches Gesicht mit hervorstechender Nase, große Haselnussaugen, starke Hände mit abgekauten und dunkelrot überlackierten Fingernägeln. Green Idaho ist das Land der Kellnerinnen, Schauspielerinnen, Pilotinnen, Autorinnen, Kongressabgeordnetinnen und vielleicht sogar Ärztinnen – sofern irgendein männlicher Bürger der Republik, der noch nicht jede Selbstachtung verloren hat, bereit ist, seine empfindlichsten Teile von einer Frau untersuchen zu lassen. Trotz der Tatsache, dass der Präsident der Republik weiblich ist, präsentieren sie sich als selbstbewusste und stolze Mittzwanziger. Hier gibt es keine Zweifel an den Geschlechterrollen, und auch Giffey hat keinen Zweifel, dass er im Leben dieser Frau wie in einem offenen Buch lesen kann.
Sie ist hübsch und jung, ihr Körper ist schlank und vermutlich sehr fruchtbar, ihre Brüste sind von Natur aus großzügig und dürften (wie er aufgrund jahrelanger Erfahrung schätzt) ein wenig, aber nicht übermäßig hängen – sehr fraulich also. Giffey hält sehr wenig von der Vorliebe der Neunziger für Kanonenkugeln, der so viele Frauen in Green Idaho zum Opfer gefallen sind. Es ist erstaunlich, in welchem Ausmaß sich Frauen der plastischen Chirurgie unterziehen – in dieser gottesfürchtigen, autonom regierten, aber nicht völlig unabhängigen Republik. Männer, die stark genug sind, um sich vor ihnen zu fürchten. Frauen, die gewillt sind, sie zu beglücken und zu befrieden. Ein Paradies auf Erden.
Die Kellnerin wirft ihm einen knappen Blick zu, den Giffey sofort kategorisieren kann. Er hat sich noch nie sonderlich für die übliche Verfolgungsjagd begeistert, da er Frauen als anständige Wesen betrachtet, die zuverlässigere Partner verdient haben, als er jemals sein kann. Aber da ist etwas in ihrem Blick – eine halb verhüllte Sehnsucht, eine Art Heimweh –, das Giffey kennt und nicht ohne nähere Erklärung auf sich beruhen lassen will – mit gebührender Höflichkeit.
»Schwere Woche?«, fragt er.
Die Kellnerin lächelt schwach.
Giffey nimmt sein Sandwich und lächelt zurück. »Ich weiß gutes Corned Beef zu schätzen«, sagt er. »Und eine hervorragende Bedienung.«
»Sonst noch etwas?«, fragt sie sachlich.
Jetzt kennt er sie mit einer Gewissheit von siebzig Prozent. Sie ist unverheiratet, lebt aber mit einem Kerl zusammen, der die meiste Zeit fort ist, um außerhalb der Stadt nach Arbeit zu suchen. Sie ist höchstens fünfundzwanzig, sieht aber wie dreißig aus. Ihr Gesicht hat bereits den Ausdruck geduldiger Dumpfheit angenommen. Ihr Partner ist im Bett feurig und schnell und möchte nicht eher eine Familie mit ihr
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