Slant
diskutiert werden und darüber abgestimmt wird. Der Vortragende starrt zur Kuppel hinauf. Sein Gesicht ist kindlich, der Kopf klein, das Haar dunkel und zerzaust. Torino. Torino.
Jonathan fragt sich, ob es derselbe Mann ist, der in wissenschaftlichen Kreise wegen seiner Arbeiten über bakterielle Gemeinschaften zu einer kleineren Berühmtheit geworden ist. Jonathan hat keine Zeit, sämtlichen Threads im Fibe zu folgen, aber er beobachtet Torino nun mit mehr Interesse. Wie es wohl sein mag, berühmt zu sein – oder auch nur ein klein wenig berühmt? Sodass Menschen bereit sind, sich anzuhören, was man zu sagen hat, dass sie respektvoll Platz nehmen und abwarten, welche Weisheiten man zu verkünden hat.
Da ist wieder der Hinweis auf seine eigene Schwäche und Unterlegenheit, wie der winzige Biss einer Spinne, die einem in die Unterwäsche geraten ist. Jonathan wünscht sich, Chloe wäre ihm an diesem Abend mit etwas mehr Wärme begegnet, dann hätte er Marcus mit mehr Selbstbewusstsein entgegentreten können.
Nun ist Torino an der Reihe. Chao stellt ihn vor – sein voller Name lautet Jerome Torino – und tritt zur Seite. Der kleine Mann hält sich mit beiden Händen am Podium fest, und das Mikro passt sich wie eine Metallschlange seiner Statur an. Er räuspert sich.
»Draußen ist es kalt und windig. Kein gutes Wetter für einen öffentlichen Vortrag.«
Jonathan lächelt höflich, genauso wie die meisten Stoiker in seiner Nähe. Schwache Einleitung. Dieser berühmte Mann, der sich so nachlässig kleidet, macht keinen guten Eindruck auf ihn.
»Ich möchte heute Abend versuchen, einige Schleier wegzuziehen und einige Irrtümer zu beseitigen, die unsere Kultur, unsere Philosophie, unsere Politik beherrschen«, beginnt Torino. Er breitet die kleinen Hände aus, als wollte er das Publikum, die ganze Kirche in die Arme schließen. Seine Augen stehen eng zusammen und leuchten. Mit einem Bart würde er wie ein kleiner Affe aussehen, denkt Jonathan.
»Mein Vortrag wird unterstützt durch… das, was früher als Multimedia bezeichnet wurde. Heutzutage ist alles multimedial, sodass dieses Wort gar nicht mehr gebraucht wird – als wollte man im Herzen der Sonne von >Hitze< sprechen. Angesichts Ihrer Charta stehe ich vor der Herausforderung, auf die ausgefeilteren Effekte zu verzichten, die ich ansonsten einsetze, um meine Worte zu unterstreichen.« Wieder räuspert er sich.
Jonathan macht sich auf Langeweile gefasst. Er rückt sich auf seinem Sitz zurecht. Die Frau neben ihm, dezente fünfzig Zentimeter entfernt, wirft ihm einen Blick zu. Er kommt sich wie ein kleiner Junge vor, der zum Stillsitzen ermahnt wird.
»Wir werden mit Worten beginnen, nur mit Worten. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer Bibliothek und gehen die Bücherregale entlang. Sagen wir, Sie befinden sich in der Library of Congress und gehen im Druckanzug durch die heliumgefüllten Räume, zwischen kilometerlangen Regalen, und Sie starren auf die Millionen und Milliarden Veröffentlichungen, Zeitschriften, Bücher, Würfel…«
Jonathan hofft, dass sein Geist durch baldige visuelle Reize wachgehalten wird. Seine Gedanken schweifen wieder zu Chloe ab. Ohne ihre Unterstützung fühle ich mich so schwach. Warum kann sie mich nicht stärker unterstützen, mir ihre //UNGETEILTE AUFMERKSAMKEIT!// schenken? Nein, das nicht, aber zumindest sollte sie mir das Gefühl geben, dass sie mich achtet.
»Jedes einzelne dieser Bücher beginnt natürlich mit einem Sexualakt. Fühlen Sie sich durch die alten sexuellen Begriffe gekränkt? Dann benutzen wir eben die Euphemismen. Männer und Frauen, die zusammenkommen…«
Gütiger Himmel, ist denn alles Sex? Jonathan windet sich erneut, und die Frau blickt ihn wieder an, mit einer Mischung aus Widerwillen über diese Eröffnung des Vortrags und Verärgerung, dass Jonathan sich wie ein kleiner Junge aufführt. Aber so ist es natürlich gar nicht. Er bildet sich nur ein, sie würde ihn auf diese Weise anschauen.
Er konzentriert sich auf Torino. Ja, es beginnt also alles im Bett.
»… und Ideen austauschen.«
Die Zuhörer lachen erleichtert. Torino lächelt.
»Sex wird häufig mit Reproduktion verwechselt. Aber selbst Bakterien betreiben Sex aus reiner verzweifelter notwendiger Freude daran – Sex ist ihr Besuch in der gemeinschaftlichen Bibliothek. Sie wühlen sich durch die zahllosen Rezepte des gemeinschaftlichen Kochbuchs, durch kleine kreisrunde DNS-Stücke, die als Plasmide bezeichnet werden.
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