Slide - Durch die Augen eines Mörders
Gefangene ihrer Entscheidungen und Handlungen. Nun aber sehe ich einen Hoffnungsschimmer – dass ich selbst
entscheiden
kann.
Wenn ich in eine Lehrerin wandern kann, die während der Schulzeit mit einem Busfahrer herummacht, kann ich mich nun auch dazu entscheiden, ihn und seinen ekligen Schnurrbart wegzustoßen.
Wenn ich in Scotch wandere, während er an einer ahnungslosen Cheerleaderin herumfummelt, kann ich mich auch entscheiden, ihn zu kastrieren. Und das ist keine leere Drohung.
Wenn ich in jemanden wandere, der in einem dunklen Zimmer steht, in dem es nach Blut riecht und in dem ich eine Leiche auf dem Bett liegen sehe, kann ich …
Kann ich …
Kann ich nichts daran ändern.
Ich kann nichts an Sophies Schicksal ändern.
Und auch nicht an dem von Amber.
Aber
jetzt
. Jetzt, wo ich eine gewisse Kontrolle habe, kann ich vielleicht verhindern, dass noch mehr Mädchen sterben müssen. Vielleicht kann ich meine Schwester beschützen.
Ich springe aufs Bett, mache Ninja-Tritte und boxe in die Luft. Ich bin Buffy, bereit, einen Schurken niederzustrecken. Ein lautes Lachen dringt aus meiner Kehle, ich lasse mich aufs Bett fallen und betrachte die Aufkleber mit den Sternen und Planeten an der Decke.
Das Gefühl, mein eigenes Leben in der Hand zu haben, ist berauschend. Ich fühle mich betrunken und high. Ich will meine neue Macht benutzen, will experimentieren.
Ich schlüpfe aus meinem Zimmer und schleiche durch den Flur. Ich schaue die Treppe hinunter, aus dem Büro meines Vaters dringt Licht. Vermutlich ist er in seinem Online-Forum zugange und tröstet die Angehörigen von verstorbenen Krebspatienten. Sagt ihnen genau die richtigen Dinge, denn das kann er, solange er ihnen nicht beim Abendessen gegenübersitzen muss.
Ich gehe zu seinem Schlafzimmer. Die Tür ist angelehnt. Ich stoße sie auf und schaue mich um. Sein Zimmer ist absolut aufgeräumt. Das Bett ist gemacht und – anders als bei mir – liegen keine Kleider auf dem Boden. Auf der Kommode steht nur ein altes Foto von meiner Mutter.
Mein Vater bewahrt ihre Eheringe in einer samtbezogenen Schachtel in der obersten Schreibtischschublade auf. Er hat seinen Ring noch Jahre nach ihrem Tod getragen, bis ihm eine alte Dame im Angehörigenforum sagte, er solle ihn ausziehen. Dieses eine Mal nahm er den Rat eines anderen Menschen an. Als ich bemerkte, dass er ihn nicht mehr trug, fragte ich ihn danach. Er versicherte mir, der Ring sei an einem sicheren Ort, doch es würde ihm weh tun, den ganzen Tag auf seine Hand zu blicken und Mom zu vermissen. Manchmal mache ich die Schublade auf und schaue in die Schachtel – nicht um die Ringe zu berühren, ich will sie nur ansehen. Diesmal aber hole ich den Ring meines Vaters behutsam aus der Schachtel.
Ich bin schon öfter in meinen Vater gewandert – zufällig, als ich seine Uhr anprobiert oder in einem alten Fotoalbum geblättert hatte. Einmal bin ich mitten in einer Operation in ihn gewandert, das hat mir einen Schock fürs Leben versetzt. Doch da ich weiß, dass er unten am Computer ist, könnte er das perfekte Ziel für meinen kleinen Test sein.
Zurück in meinem Zimmer springe ich aufs Bett und schließe meine Hand um den Ring.
Ich bleibe lange dort sitzen und warte, dass etwas – irgendetwas – passiert. Die Minuten vergehen langsam. Nach einer Weile werde ich paranoid und fürchte, dass mein Vater nach oben gehen und in die Schublade schauen könnte. Dazu hat er eigentlich keinen Grund, aber das liegt wohl in der Natur der Paranoia.
Ich streife mir den Ring über den Finger und lege mich aufs Kopfkissen. Von den früheren Wanderungen schmerzt mein Kopf, und die Koffeintabletten in meinem Rucksack flehen mich förmlich an, geschluckt zu werden. Ich ignoriere den Schmerz und schließe die Augen.
Und spüre, wie ich verschwinde.
Ich finde mich im Büro meines Vaters vor seinem Computer wieder. Er liest die E-Mail einer Frau, deren Sohn letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Einen Moment lang schaut er auf den Bildschirm, legt sich vermutlich die Worte zurecht. Dann drückt er auf Antworten und tippt einige Sätze, in denen er sein Beileid ausdrückt und ein Buch empfiehlt, das ihr bei der Bewältigung der Trauer helfen kann.
Nachdem er die E-Mail abgeschickt hat, minimiert er die Seite mit dem Krebsforum und ruft die Online-Ausgabe einer medizinischen Fachzeitschrift auf. Er klickt sich durch einige Artikel, in denen es um aktuelle Operationen geht. Ziemlich langweilig. Ich frage mich,
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