Slide - Durch die Augen eines Mörders
ob ich ihn in der Nase bohren lassen soll, um zu prüfen, ob ich das kann.
Ich konzentriere meine ganze Energie auf seinen rechten Zeigefinger.
Komm schon, Finger. Bohre in Dads Nase.
Doch der Finger schwebt weiter über dem Touchpad und navigiert ihn durch einen langweiligen Artikel nach dem anderen.
Frustriert versuche ich herauszufinden, weshalb ich meinen Vater nicht so kontrollieren kann wie Scotch auf dem Friedhof. Mir fällt nur der Zorn ein, den ich gespürt habe. Vielleicht hat es etwas mit Adrenalin zu tun.
Das Telefon klingelt, und mein Vater fährt leicht zusammen. Er meldet sich, doch ich höre nur schweres Atmen.
»Hallo? Hallo?« Die Stimme meines Vaters klingt verärgert. Keine Antwort. »Verdammt nochmal, es reicht. Wenn Sie noch einmal anrufen, gehe ich zur Polizei.« Am anderen Ende wird eingehängt.
Ich frage mich, wer am Telefon war. Ich bin von Angst erfüllt, als mir der Anruf einfällt, den ich kürzlich mitgehört habe. In dem er sagte, etwas sei vorbei. Wird mein Vater vielleicht gestalkt?
Er bleibt einen Moment ruhig sitzen, bevor er das Gespräch wegdrückt und auf das Hochzeitsfoto schaut. Er nimmt es in die Hand.
Ich rechne damit, dass er das Bild küsst oder streichelt, doch er dreht es um und löst die Rückwand des Rahmens heraus. Zu meiner Überraschung klebt ein winziger silberner Schlüssel von hinten am Foto. Sorgfältig zieht er das Klebeband ab und nimmt den Schlüssel in die Hand. Dann setzt er den Rahmen wieder zusammen und stellt ihn auf den Tisch.
Verblüfft schaue ich zu, wie er den Schlüssel in das Schloss der untersten Schreibtischschublade steckt.
Meine Eltern haben den Tisch vor Ewigkeiten auf dem Flohmarkt gekauft. Als meine Schwester und ich klein waren, haben wir damit Schule gespielt. Wir versuchten, die Schublade zu öffnen, aber es ist uns nie gelungen. Dad sagte, der Vorbesitzer habe den Schlüssel verloren, aber der Tisch sei so schön gewesen, dass er ihn einfach haben musste.
Er hat gelogen.
Er macht die Schublade auf und schiebt die Hand hinein, tastet nach etwas. Dann holt er eine Aktenmappe heraus. Auf der Vorderseite steht der Name Allison in der unordentlichen Handschrift meines Vaters. Er schlägt sie auf, ein dicker Stapel Blätter liegt darin. Ganz oben das Foto einer hinreißenden Frau mit weißblondem Haar.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag – ich habe die Frau schon einmal gesehen. Auf dem Friedhof, als ich in Scotch gewandert bin. Sie stand vor einem Grabstein. Einem Grabstein mit der Aufschrift
Allison Morrow.
Ich versuche, die Puzzleteile zusammenzusetzen, frage mich, wer die Frau gewesen sein mag. Und wer zum Teufel ist Allison?
Mit zitternden Händen legt mein Vater die Mappe wieder in die Schublade, das Foto der Frau behält er jedoch. Er starrt es lange an, dann zerknüllt er es und wirft es in den Papierkorb neben dem Schreibtisch.
»Lass. Mich. In. Frieden«, flüstert er.
Er schließt die Schublade wieder ab und legt den Schlüssel zurück in sein Versteck hinter dem Foto meiner Mutter.
Ich spüre, wie ich langsam in meinen eigenen Körper zurückgezogen werde.
Ich warte so lange, bis mein Vater etwa eine halbe Stunde in seinem Schlafzimmer ist, und öffne dann vorsichtig meine Zimmertür. Unten in der Diele ist alles still, kein Licht mehr unter der Bürotür. Ich bete, dass er schläft. Dann schleiche ich die Treppe hinunter, das Holz ist kalt unter meinen nackten Füßen.
Im Arbeitszimmer meines Vaters ist es dunkel, nur das Mondlicht fällt durchs Fenster. Eigentlich ist es ein trostloses Zimmer. Als meine Mutter noch lebte, dekorierte sie alle Räume nach ihrem Geschmack, mit Bildern, Blumendrucken und hübschen Spiegeln. Doch dieses Zimmer durfte sie nie verändern. Vanessa darf nicht einmal hier drinnen saubermachen. Dieses Zimmer ist voll mit seinen Sachen, seinen staubigen Geheimnissen.
Ich schnappe mir das Foto meiner Mutter, nehme die Rückseite des Rahmens heraus, greife nach dem Schlüssel, der so hell schimmert, als wollte er mich warnen.
Ich betrachte ihn. Wohin wird er mich führen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich für das hier bereit bin, doch das werde ich vielleicht nie sein. Vorsichtig löse ich das Klebeband und halte den Schlüssel in meiner Hand. Er ist leicht und gleichzeitig so schwer.
Ich knie mich hin und will das Schloss öffnen. Einen Moment lang verlässt mich der Mut. Das ist mein Vater, der Mann, der uns jeden Sonntagmorgen Pfannkuchen mit Schokostückchen
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