Slide - Durch die Augen eines Mörders
macht. Er hat sicher gute Gründe, Dinge hier drinnen einzuschließen.
Oder nicht?
Meine Augen wandern unwillkürlich zum Papierkorb und wünschen das Foto der weißhaarigen Frau weg. Vielleicht gibt es das alles nur in meinem Kopf. In meiner Phantasie. Aber das Foto ist noch da.
Ich bin die Geheimnisse leid.
Ich bin bereit für die Wahrheit.
Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn, bis irgendwo im Schreibtisch etwas klickt. Ich lege den Schlüssel auf die Tischplatte und öffne die Schublade. Die Aktenmappe liegt auf einem Stapel alter medizinischer Fachzeitschriften. Ich blättere in den Papieren. Es sind irgendwelche medizinischen Unterlagen.
Ich nehme ein Blatt heraus.
Name: Allison Annette Morrow
Allison. Der Name vom Grabstein. Das Mädchen, das nach zwei Tagen gestorben ist. Warum sollte mein Vater ihre medizinischen Unterlagen aufbewahren?
Ich lese weiter. Ein Haufen Unsinn, den ich nicht verstehe. Sie war eine Frühgeburt mit einer anorektalen Fehlbildung, die sofort operiert werden musste. Ich blättere weiter. Zahlen. Fachchinesisch.
Dann komme ich zur letzten Seite in der Mappe.
Datum: 19 . Oktober 1998
19 . Oktober. Allison Annette Morrow ist vor etwas über vierzehn Jahren bei einer Operation unter dem Messer meines Vaters gestorben. Und er bewahrt ihre Unterlagen in einer Schublade auf, um sich daran zu erinnern. Mir ist schlecht.
Warum gerade sie?
Ich weiß, dass schon öfter Babys, die in seiner Behandlung waren, gestorben sind.
Warum sollte er an diesem einen Fehlschlag so festhalten?
Mit zitternden Händen lege ich die Mappe wieder auf die Zeitschriften, schließe die Schublade ab und verstecke den Schlüssel.
Es dauert sehr lange, bis ich eingeschlafen bin.
22. Kapitel
M attie hat heute Geburtstag, und ich habe kein Geschenk für sie.
Es fällt mir erst ein, als ich den besonderen Frühstücksauflauf auf dem Küchentisch sehe – ein Gericht, das mein Vater nur an Geburtstagen und anderen besonderen Gelegenheiten macht. Eier, Speck, Käse und Kartoffeln. Und Butter. Jede Menge Butter. Normalerweise liebe ich dieses Essen, aber heute kreisen zwei Wörter unablässig in meinem Kopf:
anorektale Fehlbildung.
Gestern Abend habe ich den Begriff gegoogelt, aber die medizinischen Einzelheiten haben nicht viel gebracht. Ich möchte genau wissen, was am 19 . Oktober 1998 passiert ist und weshalb mein Vater so lange an dieser Geschichte festgehalten hat. Was ist so besonders an dieser Allison? Und in welcher Verbindung steht er zu der weißhaarigen Frau, die ich auf dem Friedhof gesehen habe? Gibt es überhaupt eine Verbindung? Oder werde ich verrückt?
Ich weiß nicht, wie ich das Thema angehen soll. Außerdem hat sich Mattie tatsächlich die Haare gebürstet und sitzt hungrig am Tisch, daher möchte ich ihr die Stimmung nicht verderben.
»Und, was möchtest du an deinem großen Tag machen, Geburtstagskind?« Mein Vater schaufelt Mattie Auflauf auf den Teller und schiebt ihn ihr hin. Seine gezwungene Fröhlichkeit macht nur noch deutlicher, wie beschissen dieser Tag eigentlich ist.
Sie zuckt mit den Schultern und bohrt die Gabel in den mit geschmolzenem Käse bedeckten Haufen. »Ich weiß nicht. Einfach hierbleiben? Mir ist irgendwie nicht nach Ausgehen.«
»Klingt gut. Vielleicht können wir für heute Abend
Mulan
ausleihen. Oder Pizza bestellen. Wie wär’s?«
»Dad, ich mag
Mulan
seit der zweiten Klasse nicht mehr«, erwidert Mattie. Bei mir hätte es genervt geklungen, bei ihr ist es einfach nur eine Tatsache.
»Gut, wie wäre es mit der ersten Staffel von
Rumor Girl
? Das soll toll sein.« Mein Vater sieht so ernst aus, dass es beinah wehtut.
»Hm, du meinst
Gossip Girl
? Klar, können wir machen.« Meine Schwester schiebt sich eine Gabel Auflauf in den Mund.
Könnte es sein, dass mein Vater ein dunkles Geheimnis verbirgt? Dieser Mann, der mit seinen Teenager-Töchtern
Gossip Girl
anschauen möchte? Ist das alles nur Fassade, damit wir seine eigentlichen Motive nicht bemerken?
»Mit ist nicht gut«, sage ich. »Ich lege mich hin.«
Als ich an meiner Schwester vorbeigehe, drücke ich ihre Schulter. »Herzlichen Glückwunsch, Matt.«
Sie sieht mich an und lächelt herzzerreißend. »Danke.«
Mein schlechtes Gewissen folgt mir die Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich muss ihr doch irgendetwas schenken – aber was?
Ich schaue mich um, frage mich, ob ich irgendetwas besitze, das ihr gefallen könnte. Die Tür meines Kleiderschranks ist
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