Slide - Durch die Augen eines Mörders
ertragen, sie so zu sehen. Ich beschließe, die Kontrolle zu übernehmen, um sie zu beruhigen.
Den Körper meiner Schwester zu kidnappen, ist ganz einfach. Vielleicht hat es etwas mit Genetik zu tun, aber es kommt mir völlig natürlich vor, ihre Gliedmaßen zu bewegen. Ich lehne mich zurück und hole ein paarmal tief Luft.
»Alles in Ordnung«, sage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie mich hören kann. Ich spüre sie gar nicht mehr, als wäre sie eingeschlafen. »Alles wird gut. Alles wird gut. Wir gehen auf die Party und haben Spaß. Bleib einfach ganz
ruhig
.«
Als sich die Muskeln meiner Schwester ein bisschen entspannt haben, lasse ich sie los und zwinge mich zur Rückkehr. Ich spüre geradezu, wie die Energie aus ihr hinaus und wieder in meinen Körper hineinfließt.
Ich öffne die Augen und sehe Mattie ruhig neben mir sitzen. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagt sie lächelnd, »aber es geht mir jetzt viel besser.«
Um fünf nach sieben biegt Samantha in unsere Einfahrt. Mattie springt auf den Beifahrersitz, ich quetsche mich nach hinten. Samantha bedenkt mich mit einem vollkommen künstlichen Lächeln, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben, als wären wir immer noch beste Freundinnen.
»Kannst du mich bei Zane absetzen? Er fährt mich zu euch.«
»Zane?«, fragt sie und wirft einen Blick nach hinten.
»Ja, er wohnt in der Arbor Lane.« Ich schnalle mich an. Ich kenne Samanthas Fahrstil gut genug, um zu wissen, dass eine Autofahrt mit ihr am Steuer immer ein Risiko ist.
»Klar«, sagt sie zögernd und fährt in Richtung Arbor Lane.
»Das ist es.« Ich zeige auf das Haus.
Sie hält an und lässt mich kaum aussteigen, bevor sie wieder anfährt. Ihr Wagen verschwindet um die Ecke, und ich höre, wie der Motor aufheult.
Ich klopfe an und bemerke erst jetzt den hässlichen Kürbis auf der Veranda, in den ein Dämonengesicht geschnitzt ist. Ich frage mich, wer das gemacht hat – Zane oder seine Mutter? Jedenfalls kann derjenige gut mit einem Messer umgehen.
Ich klopfe noch einmal und trete von einem Fuß auf den anderen. Ich muss mit jemandem über meinen Vater reden. Ich muss mit Zane reden.
Noch immer macht niemand auf.
Er hat doch gesagt, ich solle vorbeikommen. Da kann es auch nicht unhöflich sein, wenn ich eintrete. Vielleicht ist der Fernseher zu laut, oder Zane ist oben.
Der Türknauf lässt sich mühelos nach rechts drehen, und die Tür schwingt auf. Ich schaue in die Diele, hoffe auf Schritte.
Es kommen keine.
»Hallo?«
Nichts.
Ich stoße die Tür weiter auf und bemerke etwas Seltsames. Ein hohes Tischchen, auf dem man Schlüssel oder Handschuhe ablegt, ist umgekippt, daneben liegen eine zerbrochene Vase und eine verwelkte Rose inmitten der Scherben.
»Hallo?«
Ich trete ein und betrachte das Durcheinander.
Das sieht nicht gut aus. Ich sollte besser gehen. Ich weiß, ich
müsste
gehen, aber meine Füße sind wie festgeklebt. Ich muss Zane finden und mich davon überzeugen, dass es ihm gutgeht.
»Zane?«
Ich stelle den Tisch auf und sehe mich um. Rechts ist ein großer, offener Bereich, das muss das Wohnzimmer sein. Im Dunkeln erkenne ich die Umrisse eines Fernsehers. Links von mir befindet sich eine Treppe. Das einzige Licht kommt aus einem langen Flur genau vor mir.
Meine Füße tragen mich dem Licht entgegen. Der Flur mündet in eine kleine Küche. In einer Ecke steht ein olivgrüner Kühlschrank, an dem kleine Kuh-Magnete haften. Ein runder Holztisch nimmt den meisten Platz ein.
Jeder Flecken des Tisches ist mit Papieren bedeckt. Rechnungen. Werbung. Ich erkenne ein paar Unterlagen aus der Schule. In der Mitte ein kleiner Tischkalender. Das heutige Datum ist mit rotem Filzstift eingekreist.
27 . Oktober.
Matties Geburtstag.
Dann trifft es mich wie ein Schlag. Der weiße Zettel, der an Sophies Todestag an unserer Tür klebte, an ihrem Geburtstag – darauf war der Tag ebenfalls rot eingekreist. Diesen Zettel hatte ich in der Hand, als ich in den Mörder gewandert bin.
Ich sinke in die Knie.
Der Zettel kam aus diesem Haus.
Der Zettel kam von Zane.
Scheiße.
Ich suche fieberhaft nach einer Erklärung. Es muss einen harmlosen Grund für den Kalender geben. Ich meine, die haben doch ganz viele Leute. Zum Beispiel Mr Golden. Es ist ein ganz normaler Tischkalender.
Aber nicht jeder kreist Daten mit rotem Filzstift ein.
Ich erinnere mich an die letzte Woche.
Sophie ist an Zanes erstem Schultag gestorben. Zufall?
Als wir unter der Tribüne
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