Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
und die Welt mit den Augen eines Habichts oder Falken zu sehen?
Es könnte auch erklären, warum Menschen »sich selbst finden«, wenn sie reisen, weil sie das Leben bewusster spüren, wenn sie interessante neue Wege gehen. Wenn man sich an fremden Orten und in fremden Kulturen befindet, fühlt man unweigerlich eine stärkere Verbindung zu sich selbst, weil die neue Situation das Bewusstsein wachruft. Der unterbewusste Autopilot, der den Alltag erledigt, wird ausgeschaltet, und das Bewusstsein übernimmt die Kontrolle. Natürlich gibt es weniger Anlass, das Bewusstsein zubemühen, wenn man vorsätzlich auf gewohnte und sichere Weise reist.
Hier bietet sich eine hervorragende Gelegenheit, um zu verstehen – und ein für alle Mal zu definieren –, worin der Unterschied zwischen Reisen und Urlaubmachen besteht. Manchmal wollen wir uns in den Ferien einfach erholen, wir wollen nicht allzu sehr gefordert werden, und somit behält unser Unterbewusstsein die ganzen Ferien über die Kontrolle. Dann wieder wollen wir reisen und verspüren den Drang, die Welt aus einer anderen Perspektive zu erleben, was unser Bewusstsein auf den Plan ruft. Damit will ich nicht behaupten, es gäbe eine richtige oder falsche Art zu reisen oder dass man nicht beides unter einen Hut bringen kann – was vielleicht ja das eigentliche Ziel ist –, sondern nur, dass man mit Hilfe der Neurologie zwischen beiden Erfahrungen unterscheiden kann. Als Vater zweier Kleinkinder finde ich gelegentlich, dass ein unbewusster Urlaub, in dem alles vorhersehbar und einfach ist, genau das ist, was ich brauche, aber meistens möchte ich reisen und mein Bewusstsein die Kontrolle übernehmen lassen.
Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass das Reisen einen dazu befähigt, die eigene Sicht auf die Welt zu ändern. Die Entdeckung, dass sich dies in der Funktionsweise meines Gehirns widerspiegelt, leuchtet mir völlig ein, weil ich mein Leben sicherlich bewusster wahrnehme, wenn ich weniger Kontrolle darüber habe. Wenn ich mir vorstelle, dass es konkrete Auswirkungen darauf hat, wie das Gehirn die Welt wahrnimmt, wenn man sich beim Reisen fremden Kulturen aussetzt, muss ich an einen Mann namens Rupert Isaacson denken, dem ich voriges Jahr begegnet bin.
Isaacson ist ein unglaublich inspirierender und spannender Mensch. Er ist ein Reiseautor, der in Großbritannien geboren wurde, mittlerweile aber in Texas lebt, und er hat eine dieser unglaublichen Reisen unternommen, über die man in Büchern liest oder die in Filmen vorkommen, zu denen man aber selbst nie kommt. Außerdem hat er ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben und einen Film mit dem Titel Der Pferdejunge daraus gemacht. Darin wird erzählt, wie er zu Pferd mit seiner Frau Kristin und ihrem vierjährigen Sohn Rowan durch die Mongolei gereist ist, um Rowans Autismus zu heilen, aber nicht, um ihn davon zu kurieren. Der Unterschied zwischen beidem sagt viel über die Isaacsons aus.
Isaacson beschreibt auf erschütternde Weise, wie er und Kristin kämpfen mussten, um einen Umgang mit der Krankheit ihres Sohns zu finden, als Rowans zweiter Geburtstag bevorstand:
Das Leben war plötzlich zu einer mechanischen Plackerei geworden, die daraus bestand, von einem Therapie- und Begutachtungstermin zum nächsten zu fahren und mit Versicherungen, Therapeuten und Rowans ständig zunehmenden, unerklärlichen Wutanfällen fertig zu werden. Anfällen auf der Straße …, wo Rowan sich als winzige menschliche Dezibelmaschine auf den Boden warf und Kopf und Fersen so heftig wie ein Epileptiker auf den Boden schlug, dass wir ihn bremsen mussten. Manchmal musste er sich bei seinen Wutanfällen in hohem Bogen erbrechen, genau wie das Kind im Exorzisten .
Eine Internetrecherche ergab widersprüchliche Ratschläge für den Umgang mit der Situation, aber auch Informationen,die den ratlosen Eltern verständlich machten, wie traumatisch Rowan die Welt wahrnahm. Autistische Kinder haben deutlich mehr Nervenzellen im Gehirn als »neurotypische« Menschen, deshalb sind sie ständig einer Reizüberflutung ausgesetzt, die wir uns kaum vorstellen können. Bei Rowan wurde schließlich eine nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung namens PDD (Pervasive Developmental Disorder) diagnostiziert – eine Form von Autismus, mit der sich niemand wirklich auskannte. Man nahm an, dass sie durch eine Reaktion der Gene auf die Umwelt ausgelöst wird, was wiederum zu der Theorie führte, sie hätte biologische Ursachen
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