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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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übersetzte), wenn sie diese Prozedur einmal jährlich über drei Jahre mitmachen würden, würde Rowan vollkommen geheilt werden, es käme jedoch noch ein Ritual. Es fiel mir schwer weiterzulesen, denn dabei wurde Rowan auf den Rücken geschlagen. Er schrie, und Isaacson ging dazwischen, wurde jedoch weggezogen, und dann war das Ritual beendet. Eine Schamanin nahm den offensichtlich verstörten Rowan in die Arme und begann zu singen. Er beruhigte sich sofort und nannte sie seine mongolische Mutter.
    Isaacson stellt ständig seine eigenen Motive in Frage und rechtfertigt sich damit, dass er verzweifelt war, aber dennoch ist es offensichtlich, dass ein Teil von ihm wirklich an diese Prozedur glaubt. Den Grund dafür, dass er seine Familie alldem ausgesetzt hat, beschreibt er wiederholt als »Eingebung«; er sei seiner »inneren Stimme« gefolgt, auch wenn er nicht genau erklären kann, was das bedeutet.
    Doch die Reise zu Pferd hatte noch nicht einmal begonnen. Einige Tage nach der schamanischen Handlung führt Tulga die Familie zu einer Gruppe von Nomaden, die sie mit auf einen achttägigen Ritt zum heiligen Scharga-See und weiter zu den Rentiermenschen nehmen würde. Alsdie Familie endlich auf schmalen, unbefestigten Wegen das Nomadenlager erreicht, das buchstäblich im Nirgendwo liegt, beschreibt Isaacson, wie sich seine Wahrnehmung verschiebt:
    So eine Reise von Nirgendwo nach Nirgendwo programmiert das Gehirn neu, als würde man den inneren Kilometerstand auf null setzen oder eine Tafel abwischen. Und jetzt? , fragt der Verstand. Was jetzt?
    Inzwischen benahmen sich Rowan und Tulgas Sohn Tomoo wie alle anderen kleinen Kinder – sie spielten zusammen, lachten und alberten herum. Nur taten sie das inmitten der Nomadenherden in den mongolischen Bergen. Isaacson wagte kaum, daran zu glauben, dass die Rituale der Schamanen gewirkt hatten, doch Rowan hatte vorher noch nie so mit anderen Kindern gespielt, wie er es mit Tomoo tat. Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen würden sie ihren Ritt antreten.
    Wichtig für unsere Zwecke ist die Tatsache, dass die Reise eine deutliche Veränderung in Rowan hervorrief – die noch lange anhielt, nachdem sie wieder zu Hause waren. Heute hat Rowan eine sehr viel höhere Lebensqualität als vorher. Er ist zwar nicht von seinem Autismus »geheilt« worden, doch bei seinen Eltern und Freunden besteht kein Zweifel darüber, dass er sich sehr verändert hat. Wer weiß schon, ob es an den Heilkräften der Schamanen lag? Vielleicht war auch die gemeinsame Reise mit der Familie oder einfach nur das Reiten ein Akt der Heilung? Tatsache ist, dass der Mut – oder die Eingebung –, der die Isaacsons zu dieser Reise aufbrechen ließ, die Wahrnehmung veränderte, die Rowans Gehirn von der Welt hatte. Ihre Geschichte beweist, dass wir alle dazu in der Lage sind, Zugang zu anderen Teilenunseres Bewusstseins zu erlangen, wenn wir reisen, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen.

    Mein Milchwagen-Trip durch England wirkt im Vergleich zu der Geschichte des Pferdejungen eher harmlos, aber beide Reisen beruhten auf denselben drei Prinzipien: der Eingebung, das Richtige zu tun, langsam zu reisen und sich auf die Großzügigkeit einer Gemeinschaft zu verlassen, die keiner der Teilnehmer vorher kannte.
    Der Gemeinschaftssinn, dem wir auf unserer Reise durch England begegneten, ist das, woran ich mich heute am deutlichsten erinnere. Ich hatte noch nie etwas für Sehenswürdigkeiten übrig, also mieden wir sie so gut es ging. Dafür entdeckten wir eine ganz andere Art von Sehenswürdigkeiten. Solche, die sich nicht festlegen lassen, so dass man keinen Trip planen könnte, um sie ausfindig zu machen. Wir entdeckten sie nicht in einem Reiseführer oder in einem Prospekt, sondern indem wir unserem Instinkt und unserer Neugier folgten. Sie saßen auf Barhockern, lagen an lodernden Feuern, hockten auf einem Baum, spähten unter das Fahrgestell des Milchwagens, um das Bremskabel zu überprüfen, arbeiteten in Fabriken, wohnten an der Straße, auf dem Campingplatz; eine fanden wir sogar in einem riesigen Supermarkt in einem Einkaufszentrum. Es waren Sehenswürdigkeiten, die ihre eigenen Geschichten, Überzeugungen und Vorstellungen hatten. Natürlich waren es Menschen, nicht Orte oder Dinge. Menschen, denen wir unterwegs begegneten und deren Leben sich mit unseren überschnitten.
    Solche Erlebnisse lassen sich nicht wiederholen, sie sind unvorhersehbar; es sind diese Momente, die Gespräche unddie Witze, an
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