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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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vordringt und weiter Ayahuasca konsumiert, ermöglicht diese andere Sichtweise ihr eine Vielzahl von Entdeckungen, die uns einen Eindruck davon vermitteln, wie der Mensch seinem Leben auf intuitivere Weise einen Sinn geben kann. Griffiths zitiert einen nordamerikanischen Indianer, der erzählt, dass seine Kultur die Natur und die Erde als Bibliothek versteht: Die Bücher sind die Vögel, die Tiere, die Bäume und die Berge. Zum Nachdenken legen sich die Angehörigen seines Volkes auf die Erde, um ihre Weisheit in sich aufzunehmen. Ob auch unser Land einst die Quelle solcher wunderbaren mythischen Vorstellungen gewesen ist?
    Griffiths entdeckt, dass die Menschen in den indigenen Kulturen häufig »Songlines« verwenden, die es den Menschen, denen sie begegnet, ermöglichen, ihr Land zu durchwandern, indem sie Lieder singen, die einem Uneingeweihten nahezu magisch erscheinen. In seinem Buch Traumpfade beschreibt Chatwin dieaustralischen Aborigines und ihr »Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganz Australien schlängeln«. Die Urmythen der Aborigines beschreiben, wie die ersten Menschen ihrer Kultur die Welt buchstäblich durch Gesang entstehen ließen. Indem sie diesen Traumpfaden folgen, die die geografischen Gegebenheiten ihres Landes beschreiben, sind sie in der Lage, Hunderte von Kilometern durch eine Landschaft zu wandern, in der das westliche Auge so gut wie keine Orientierungsmerkmale ausmachen kann.
    Griffiths trifft auf Stämme, die im Zuge der Abholzung des Amazonasdschungels ihr Land und damit auch die Sprache ihrer Kultur verloren haben, denn beides war untrennbar miteinander verbunden. Weil sie ihre Sprache »verloren« hatten, begannen sie, die »geborgte« Sprache des weißen Mannes zu verwenden, und verloren bald das Gefühl für ihre eigene Identität und die Verbindung zu ihren Vorfahren. Griffiths berichtet, dass in Brasilien zwischen 1986 und 1999 über 300 Indianer vom Stamm der Guarani-Kaiowá die ihr Land und ihre Sprache auf diese Weise verloren hatten, Selbstmord begingen. Und wir begreifen, dass die Zerstörung des Dschungels nicht nur den Verlust einiger Bäume darstellt, sondern die Zerstörung von Wissen, wie Griffiths in drastischen Worten beschreibt:
    Im Amazonasgebiet ist der Angriff auf die Natur auch ein Angriff auf die Kultur, auf Hunderte von Stammeskulturen. Verbrennt ihre Bücher, zerstückelt ihre Sprache und vernichtet ihr Weltbild! Spritzt Entlaubungsmittel in die Augen eines Dschungel-Picassos. Bindet Shakespeare die Hände auf dem Rücken – mit Stacheldraht. Brecht Nurejew die Knöchel, tretet Fonteyn aufdie Füße. Schlagt Joyce’ Kopf gegen eine Wand, bis er winselt und die Worte ihn verlassen. Beschmiert einen El Greco mit Graffiti. Planiert die Skulpturen von Rodin mit einem Bulldozer …
    Durch Griffiths’ Erfahrungen werden wir gezwungen, unsere Weltsicht ganz neu zu überdenken. Mit ihr befinden wir uns am anderen Ende des Spektrums des modernen Reisens. Beim Reisen geht es auch darum, unangenehme Wahrheiten über die eigene beschränkte Wahrnehmung zu entdecken. Griffiths’ Reisen sind hart – sie verliert in den Bergen einige Zehennägel durch Erfrierungen, und sie wird gezwungen, nicht nur mit ihren eigenen Unsicherheiten umzugehen, sondern auch damit, dass die Menschen, denen sie unterwegs begegnet, sie kritisch betrachten. In der Arktis gelingt es ihr, die einheimischen Jäger davon zu überzeugen, sie mit an Bord eines der Boote zu nehmen, mit denen sie auf Robbenund Waljagd gehen. Sie kann ihren Abscheu nicht verbergen, als eine Robbe aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wird, obwohl sie es als richtig und notwendig ansieht, dass die Jäger töten müssen, um zu überleben. Doch das nächste Mal muss sie an Land bleiben. Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie vor den Jägern Schwäche gezeigt hat, und erkennt, wie sehr sie sich von der Wildnis entfernt hat, auf die andere noch immer angewiesen sind. Und obwohl sie mehrere schwere Krankheiten überstehen muss, wird deutlich, dass sie es nicht anders hätte haben wollen.
    Große Teile ihres Buchs verwendet sie darauf, die Sprache zu analysieren, die wir unbewusst benutzen. Bei ihr lernte ich, dass das Wort travel ursprünglich von dem französischen Wort travaille  – Arbeit – abstammt, das wiederum auf das lateinische Wort trepalium zurückgeht, das ein dreizinkiges Folterinstrument bezeichnet. Reisen soll schwierigsein. Wir sollen leiden, uns unwohl fühlen und uns Gefahren
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