Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
linke Hemisphäre als den Silvio Berlusconi des Gehirns: Sie kontrolliert das Medium Sprache und ist damit für die Unausgewogenheit unsererWahrnehmungen verantwortlich, weil die rechte Hemisphäre die linke braucht, um ihre Vorstellungen und Anliegen zu vermitteln.
Anhand dieses Wissens können wir besser verstehen, was wir wollen, wenn wir reisen, und welches Paradoxon dahintersteht. Die linke Hemisphäre versteht Dinge, die bewährt, vertraut und eng fokussiert sind, was vermutlich der Grund dafür ist, dass wir sofort losgehen und uns einen Reiseführer kaufen, wenn wir uns für ein Reiseziel entschieden haben. Doch die rechte Gehirnhälfte möchte, dass wir offen für neue Ideen und neue Perspektiven sind, was der Grund dafür sein könnte, dass uns die Informationen aus dem Reiseführer schnell langweilen. Heutzutage wird uns das Reisen auf der Grundlage dessen verkauft, was der rechten Hemisphäre zufolge intuitiv zum Reisen gehört – Entdeckungen, Lernen, das Unbekannte –, doch der Prozess des Reisens an sich entspricht zunehmend der strukturierten Weltsicht der linken Hemisphäre.
Unsere schönsten Reiseerlebnisse bestehen sicherlich aus einer Kombination aus beiden Ansätzen, einem Gleichgewicht zwischen der Ordnung und dem Unbekannten. Meine Erfahrungen mit dem langsamen Reisen sind ein Beispiel dafür. Auch wenn es unbequem sein mag, einen Fernzug zu nehmen, anstatt in ein Flugzeug zu steigen, so sind diese Züge doch (meistens) zuverlässig im Hinblick auf die Dauer der Fahrt und das Ziel, das man erreichen will – das gefällt der linken Gehirnhälfte. Doch es gibt noch immer genug Raum für das Unbekannte, um mein Bewusstsein und meine rechte Gehirnhälfte zu erfreuen, weil ich unterwegs mit fremden Sprachen, Kulturen, Menschen, Dingen, die ich vom Fenster aus sehe, und müßigen Gedanken konfrontiert werde.
Wenn herkömmliche Pauschalangebote und Sightseeing-Touren die Art des Reisens sind, die der linken Gehirnhälfte gefallen, und das langsame Reisen eine ausgewogenere Herangehensweise darstellt, welche Form des Reisens entspricht dann der rechten Gehirnhälfte? Als Beispiel dafür möchte ich Ihnen Jay Griffiths und ihr Buch Wild vorstellen.
Ich habe Wild bereits mehrmals gelesen, aber nachdem ich mit McGilchrists Argumenten vertraut war, wurde es für mich noch faszinierender. In den besten Reisebüchern werden nicht nur Orte beschrieben – sondern sie sind auch Reisen in das Bewusstsein des Verfassers. Griffiths erzählt in ihrem Buch davon, wie sie in eine schwere Depression geriet und den Entschluss fasste, sich auf die Suche nach einem halluzinogenen Getränk namens »Ayahuasca« zu machen, das von Schamanen im Amazonasdschungel hergestellt wird. Diese Entscheidung könnte man – ähnlich wie Isaacsons Eingebung – der linken Gehirnhälfte zuschreiben, die die Kontrolle an die rechte Gehirnhälfte abgibt, weil alle scheinbar bewährten und bekannten Methoden zur Bewältigung der Situation ausgeschöpft sind.
Griffiths verwendet die Metapher von der Wüste des Geistes, um ihre Depression zu erklären, und sucht den physischen und mentalen Gegensatz davon, indem sie sich in die Wildnis begibt. Sie trinkt Ayahuasca mit einem Schamanen im Dschungel, sie hat Visionen und durchlebt eine schmerzhafte körperliche Reinigung. Sie erinnert uns daran, dass wir alle einmal Wilde waren, und dass etwas davon in unserer Sehnsucht nach dem Unbekannten fortlebt. In ihrem Vorwort schreibt sie:
Ich wollte am Rand des Imperativs leben, in der zärtlichen Wut des leichtfertigen Augenblicks, denn indiesem kurzen und pointillistischen Leben, das kontrastreich und elektrisierend ist, konnte ich nicht anders … Denn der menschliche Geist ist ursprünglich an die Wildnis gebunden, an das wirkliche Leben, er will die Frucht pflücken und sie aussaugen …
Sie fordert uns auf, im Moment zu leben, denn Griffiths erlebt die Wildnis nicht als etwas, dem sie sich ausliefert, sondern als Versuch, Erkenntnisse jenseits ihrer eigenen Erfahrungen zu sammeln.
Sie gliedert ihren Reisebericht in vier Kapitel, die auf den vier Elementen der alten Griechen basieren – Erde, Luft, Feuer und Wasser –, und sucht Orte auf, an denen die Wildnis noch immer zu finden ist: den Dschungel, die Arktis, Berge und Wüsten. Sie beschreibt, wie sie andere Wege der Erkenntnis von den indigenen Kulturen übernimmt, die »die westliche Welt nicht anerkennt«. Während sie entlang des Flusses immer tiefer in den Dschungel
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