Smaragdjungfer
möchten, werden wir verstärkt daran arbeiten, diesen Mechanismus langfristig zu entschärfen und durch andere Verhaltensweisen zu ersetzen.«
Allein der Gedanke machte Paula Angst. Ihre »Präventivverteidigung« war ihr Schutzschild gegen die Welt im Allgemeinen und Leute wie Hansen im Besonderen. Sie aufzugeben oder auch nur abzuschwächen, erweckte in ihr ein Gefühl von Schutzlosigkeit. Als würde sie ihre Waffe weglegen und sich mit gefesselten Händen einer Gang von Räubern entgegenstellen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Keller entging das natürlich nicht.
»Was, glauben Sie, würde passieren, wenn wir in dieser Richtung arbeiten?«
»Ich würde zu einer zahnlosen und krallenlosen Tigerin mutieren, die keiner mehr ernst nimmt, weil sie sich nicht mehr wehren kann.«
Keller überdachte das. »Ich habe da ein anderes Bild vor Augen. Das einer Tigerin, die sich in ein Wesen verwandelt, das andere Möglichkeiten der Verteidigung hat, wenn es wirklich angegriffen wird und das die Weisheit und den Instinkt besitzt zu erkennen, wann diese Verteidigungsmechanismen erforderlich sind und wann nicht. Verstehen Sie, was ich meine? Sie wären zu keiner Zeit schutz-oder gar wehrlos. Sie würden nur effektivere Methoden entwickeln, um sich zu schützen, sodass Sie keine Präventivverteidigung mehr brauchen.«
»Hört sich verlockend an. Und so einfach.«
»Oh, einfach wird das nicht, sondern ein hartes Stück Arbeit. Aber wie ich Sie kenne, würden Sie das mit Bravour und vor allem Erfolg meistern. Wenn Sie möchten, denken Sie sich fürs nächste Mal oder wann es Ihnen recht ist, ein Wesen aus, das die Eigenschaften besitzt, die Sie brauchen und wünschen. Das nehmen wir dann als Symbol, mit dem wir weiterarbeiten.«
Da Paula in Bildern dachte und auf Symbole ansprach, arbeitete Keller oft mit ihr auf dieser Basis. Bisher mit sehr gutem Erfolg.
»Okay. Ich mache mir mal Gedanken.«
»Ergänzend dazu gäbe es natürlich noch andere Dinge, die Ihnen helfen könnten. Wäre es für Sie zum Beispiel denkbar, dass Sie tatsächlich irgendwann an einen Ort ziehen, der für Sie nicht mit so vielen negativen Erinnerungen behaftet ist? Natürlich nachdem das gegenwärtige Mobbing aufgehört hat, damit es nicht so aussieht, als würden Sie davor davonlaufen.«
Hätte ein anderer als Malte Keller ihr diesen Vorschlag gemacht, Paula hätte ihn verbal in der Luft zerfetzt. Da der Psychiater neben Sigurd Fischer der einzige Mensch war, von dem sie wusste, dass er ihr nicht übel wollte, dachte sie ernsthaft darüber nach.
»Theoretisch vielleicht schon. Aber praktisch sehe ich darin keinen Sinn. Zum einen nehme ich meine Erinnerungen überall mit hin, selbst wenn ich ans Ende der Welt ziehe. Zum anderen ist mir diese Angriffshaltung so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich sie nicht mehr ablegen kann. Ich hätte dieselben Probleme damit, egal wohin ich gehe.«
»Daran würden wir vorher ausgiebig arbeiten. Ihr permanenter Angriffsmodus ist nicht Ihre angeborene Natur, Frau Rauwolf, sondern ein erlerntes Verhalten. Aber das kann man durch neue Verhaltensweisen ersetzen. Davon abgesehen tut ein längerer oder auch dauerhafter Ortswechsel der Heilung von Verletzungen – körperlichen wie seelischen – manchmal sehr gut.«
Dass sie nicht sofort dagegen protestierte, wertete Keller wahrscheinlich als Fortschritt. Für Paula war es ein Zeichen, dass sie mürbe war. Müde. Dass ihre Kraft, sich auch den größten Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens zu stellen, erheblich nachgelassen hatte. Damit einher ging die Angst zu versagen. Sie verdrängte sie sofort. Denn sie zuzulassen, würde sie noch mehr schwächen. Und sie brauchte gerade jetzt die ganze Kraft, die noch übrig war. Ein Ortswechsel – den Keller ihr heute nicht zum ersten Mal vorschlug – gewann dadurch den Status einer echten Option.
»Was beschäftigt Sie?« Natürlich war ihm nicht entgangen, dass sie melancholisch geworden war.
»Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Dass ich mich verloren habe.« Sie sah ihm in die Augen. »Wird dieses Gefühl irgendwann verschwinden?«
Er wählte seine Worte sorgfältig. Wie immer, wenn er etwas ansprach, das für Paula heikel war. »Fakt ist, dass ein Trauma, wie Sie es erlebt haben, einen Menschen drastisch verändert. Es verschiebt Prioritäten, eingefleischte Sichtweisen, manchmal sogar liebgewonnene Rituale, die auf einmal nichts mehr bedeuten. Manche dieser Dinge kommen im
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